Baudolino
sagte Baudolino zu seinen Gefährten gewandt. »Es scheint mir klar zu sein, daß die verschiedenen Rassen, die in dieser Provinz leben, überhaupt kein Gewicht auf die
Unterschiede in Körperbau, Farbe und Form legen - während wir ja, wenn wir bloß einen Zwerg sehen, ihn schon als eine Laune der Natur betrachten. Statt dessen legen sie, wie es auch viele unserer Gelehrten tun, großes Gewicht auf die
Unterschiede in den Ideen über die Natur Christi oder über die Heilige Dreieinigkeit, von der wir in Paris so oft gehört haben.
Das ist ihre Art zu denken. Versuchen wir das zu verstehen, sonst werden wir uns immer in endlosen Diskussionen verlieren.
Also tun wir so, als ob die Blemmyer wie die Skiapoden wären, und was sie über die Natur Unseres Herrn denken, braucht uns nicht weiter zu kümmern.«
»Nach dem, was ich verstanden habe, teilen die Skiapoden die schreckliche Häresie des Arius«, sagte Boron, der wie immer derjenige unter ihnen war, der die meisten Bücher gelesen hatte.
»Na wenn schon«, meinte der Poet. »Mir scheint das eine Sache für Graeculi zu sein. Für uns im Norden war es immer viel wichtiger zu wissen, wer der wahre Papst und wer der
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Gegenpapst war - dabei hing alles von einer Laune meines verstorbenen Herrn Rainald ab. Jeder hat seine Fehler.
Baudolino hat recht, tun wir einfach so, als ob nichts wäre, und bitten wir den flotten Knaben hier, uns zu seinem Diakon zu führen, der vielleicht kein großer Herr ist, aber immerhin schon mal Johannes heißt.«
Sie baten also Gavagai, sie nach Pndapetzim zu führen, und er machte sich mit gebremsten Sprüngen auf den Weg, damit die Pferde ihm folgen konnten. Nach zwei Stunden kamen sie ans Ende des Farnkrautmeeres und gelangten in eine steinige Zone, die mit Öl- und Obstbäumen bestellt war. Unter den Bäumen saßen, neugierig aufschauend, Wesen mit menschlichen Zügen, die ihnen grüßend zuwinkten, aber nur stammelnde Laute von sich gaben. Es waren, wie Gavagai erklärte, die Zungenlosen, die außerhalb der Stadt lebten, weil sie Messalianer waren, Leute, die glaubten, man könne allein durch ständiges stilles Gebet in den Himmel kommen, ohne die Sakramente zu
vollziehen, ohne sich in Werken der Barmherzigkeit oder anderen Arten der Selbstkasteiung zu üben, auch ohne andere Formen des Gottesdienstes.
Deswegen gingen sie nie in die Kirchen von Pndapetzim. Sie wurden von allen scheel angesehen, weil sie behaupteten, auch Arbeit sei ein gutes Werk und darum unnütz. Sie lebten in größter Armut und ernährten sich von den Früchten jener Bäume, von denen sie sieh ohne Scheu einfach nahmen, was sie brauchten, obwohl sie der ganzen Gemeinde gehörten.
»Sonst sind sie wie ihr, nicht wahr?« frotzelte der Poet.
»Wie wir, wenn nix sage.«
Die Berge rückten immer näher, und je näher sie kamen, desto besser erkannte man ihre Natur. Am Ende der steinigen Zone erhoben sich zahlreiche glatte gelbliche Kegel, die aussahen wie aus Schlagsahne, fand Colandrino, oder nein, wie aus
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Zuckerwatte, ach was, wie schmale Sandhaufen, dicht an dicht nebeneinandergesetzt wie die Bäume in einem Wald. Dahinter ragte auf, was aus der Ferne wie hochgereckte Finger
ausgesehen hatte: eine Reihe von mächtigen Zinnen, die auf der Spitze etwas wie Hüte trugen, liegende Felsbrocken aus
dunklerem Stein, bald in Form einer Kapuze, bald eher als flache Mütze, die vorne und hinten überstand. Beim
Näherkommen erwiesen sich die Felsen als weniger spitz, aber jeder von ihnen erschien mit Löchern durchbohrt wie ein Bienenhaus, bis man begriff, daß diese Löcher Höhlen waren, in den Stein gehauene Wohnungen, zu denen man auf kleinen
hölzernen Leitern gelangte, die sich von Absatz zu Absatz miteinander verbanden und an jedem dieser Kegel ein luftiges Netzwerk bildeten, auf dem die Bewohner, die von weitem wie Ameisen aussahen, behende auf und ab kletterten.
Im Zentrum der Stadt gab es richtige Häuser, ja
mehrgeschossige Häuserzeilen, auch sie in den Felsen gehauen, aus dem nur einige obere Fassadenteile hervorsprangen. Weiter hinten erhob sich ein imposanteres Felsmassiv von
unregelmäßiger Form, gleichfalls ein einziger Bienenstock voller Höhlen, aber mit eher geometrischen Öffnungen ähnlich Fenstern und Türen und in manchen Fällen mit kleinen Altanen, Logen oder Baikonen davor. Einige Öffnungen waren mit
bunten Tüchern verhängt, andere mit geflochtenen Strohmatten.
Kurzum, man befand sich inmitten einer ziemlich
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