Baudolino
anderes.«
»Haltet mich fest, ich könnt' ihn erwürgen!« schnaubte der Poet mit Schaum vor dem Mund.
»Kurz und gut«, sagte Baudolino, »Blemmyer denken
schlecht, Giganten denken schlecht, alle denken schlecht, nur Skiapoden nicht. Und was denkt dieser euer Diakon?«
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»Diakon nix denke. Diakon befehle.«
Während sie sprachen, trat einer der Nubier plötzlich vor Colandrinos Pferd, kniete nieder, streckte die Arme vor, senkte den Kopf und sprach einige Worte in einer unbekannten
Sprache, aber am Ton war zu hören, daß es sich um eine
flehentliche Bitte handelte.
»Was will er?« fragte Colandrino. Gavagai antwortete, der Nubier habe im Namen Gottes gebeten, ihm mit dem schönen Schwert, das er am Gürtel trage, den Kopf abzuschlagen.
»Er will, daß ich ihn töte? Wieso?«
Gavagai schien verlegen. »Nubier seltsame Leut. Du wisse, sie Circumcellionen. Gute Krieger nur, weil Martyrium wolle.
Kaum irgendwo Krieg, gleich suche Martyrium. Nubier wie kleine Kinder, wolle immer sofort haben, was ihnen gefalle.« Er sagte etwas zu dem Nubier, und der ging gesenkten Hauptes davon. Auf die Frage, was es mit den Circumcellionen auf sich habe, sagte Gavagai nur, die Circumcellionen seien die Nubier.
Dann wies er darauf hin, daß der Sonnenuntergang nahte und der Markt sich auflöste, daß es also Zeit sei, sich zum Turm zu begeben. Tatsächlich war die Menge dabei, sich zu zerstreuen, die Verkäufer packten ihre Sachen in große Körbe; aus den Öffnungen in den Felswänden kamen Seile herunter, und die Ware wurde hinaufgezogen. Es war ein geschäftiges Auf und Ab, und kurz darauf lag die ganze Stadt verlassen da. Einen Moment lang schien sie ein großer Friedhof mit unzähligen Grabnischen zu sein, aber schon begannen sich jene Tür- oder Fensteröffnungen eine nach der anderen zu erhellen, ein Zeichen, daß die Einwohner von Pndapetzim Kamine und
Lampen anzündeten, um sich auf den Abend vorzubereiten.
Dank irgendwelcher unsichtbaren Bohrlöcher kam der Rauch all dieser Feuer aus den Spitzen der Felskegel, und der inzwischen fahle Himmel wurde schraffiert von schwarzbraunen
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Federbüschen, die sich aufsteigend in den Wolken verloren.
Unsere Freunde durchmaßen den Rest von Pndapetzim und
gelangten zu einem offenen Platz, hinter welchem die Berge keinen erkennbaren Durchgang mehr ließen. Hier erhob sich, halb in den Berghang eingelassen, das einzige artifizielle Bauwerk der ganzen Stadt. Es war ein Turm beziehungsweise der vordere Teil eines runden Stufenturms, unten breit und nach oben hin immer schmaler werdend, aber nicht wie eine aus immer kleineren Kuchen aufgeschichtete Torte, denn ein
kontinuierlicher Umgang zog sich spiralförmig von Stufe zu Stufe hinauf, und man erriet, daß er auch im Innern des Felsens auf der Rückseite weiterging und sich also von der Basis bis zur Spitze um den Bau wand. Der Turm selbst bestand aus lauter hohen Doppeltoren mit Rundbögen, die sich aneinanderreihten, ohne mehr Platz zwischen sich zu lassen als für den Pfeiler, der ein Tor vom anderen trennte, und das Ganze sah aus wie ein Ungeheuer mit tausend Augen. Rabbi Solomon meinte, so
müsse der Turm zu Babel gewesen sein, den der grausame
Nimrod errichtet habe, um herauszufordern den Heiligen, der gesegnet sein solle immerdar.
»Dies hier«, sagte Gavagai mit unverhohlenem Stolz, »dies iste Palast von Diakon Johannes. Ihr jetzt stehenbleibe und warte, weil Diakon wisse, daß ihr komme, und er euch
vorbereite feierlichen Empfang. Ich jetzt gehe.«
»Wo gehst du hin?«
»Ich nix kann mit reingehen in Turm. Wenn ihr empfangen und bei Diakon gewesen, ich euch komme wieder holen. Ich euer Führer in Pndapetzim, ich euch nicht lass allein. Obacht bei Eunuchen, der da junger Mann« - deutete auf Colandrino -, »und Eunuchen Gefallen an Jugend. Ave, evcharisto, saläm.« Er salutierte fast militärisch strammstehend auf seinem einen Fuß, machte kehrt und war einen Augenblick später schon weit in der Ferne.
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30. KAPITEL
BAUDOLINO BEGEGNET DEM
DIAKON JOHANNES
Als sie noch etwa fünfzig Schritte vom Turm entfernt waren, sahen sie einen Zug herauskommen. Vorneweg eine Abordnung Nubier, aber prächtiger angetan als die auf dem Markt: der Unterleib und die Beine in enganliegende weiße Tücher
gewickelt, darüber ein Lendenschurz; der Oberkörper nackt, aber mit einem roten Schulterumhang und einem ledernen
Halsband, an dem bunte Steine befestigt waren, nicht Edelsteine, sondern Kiesel wie vom
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