Beck Wissen - Materie - Von der Urmateria zum Leben
Begründung der Stereochemie liefert erst die moderne Quantenchemie. Nach Vorarbeiten von Kossei (1916) und Lewis (1919) fällt das Geburtsjahr der Quantenchemie ins Jahr 1927, als kurz nach der Veröffentlichung von Schrödingers Wellengleichung sowohl Heitier und London als auch Born und Oppenheimer zwei grundlegende Arbeiten zur chemischen Theorie der Moleküle publizierten. {55} Allerdings können die molekularen Strukturformeln des Chemikers nicht ohne weiteres aus der Quantenmechanik abgeleitet werden. Dazu sind besondere Abstraktionen notwendig, um die klassischen anschaulichen Modelle wenigstens approximativ mit numerischen Verfahren zu erhalten. Beispiele solcher anschaulichen Modelle sind die Annahme einer 3-dimensionalen Gestalt der Moleküle, eines Kerngerüsts und individueller Elektronen auf den Molekülorbits. Mit Draht und Plastikkugeln zusammengesetzt, sind diese Modelle jedermann vertraut. Die Quantenmechanik zeigt jedoch, daß die Natur kein großer Baukasten ist, in dem sich Materie aus isolierten Bausteinen zusammensetzen läßt. {56} Der Welle-Teilchen-Dualismus, Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation und EPR-Korrelationen nach dem Superpositionsprinzip (vgl. Kap. II. 2) stehen diesen Vereinfachungen entgegen.
Unter dieser Voraussetzung können in der Stereochemie räumliche Molekülstrukturen mit ihren Elektronenorbitalen untersucht werden. Die molekularen Struktureigenschaften liefern Erklärungen für die Eigenschaften der betreffenden Stoffe. Im Zentrum stehen komplizierte Symmetrieeigenschaften und ihre Abweichungen (Dissymmetrien, Asymmetrien, Chiralität). Bei freien Molekülen wird ihre Geometrie nicht durch die Wechselwirkung mit Nachbarmolekülen beeinflußt. Man kann sich einen solchen Zustand in der Gasphase unter geringem Druck realisiert vorstellen. Die Symmetrien von Kristallen werden auf Molekülgitter zurückgeführt. {57}
Zur Erklärung materieller Eigenschaften sind auch molekulare Symmetriebrechungen von zentralem Interesse. Insbesondere die Emergenz lebender Systeme ist mit der Entwicklung dissymmetrischer (,chiraler‘) Moleküle verbunden, von deren zwei links- bzw. rechtshändigen Möglichkeiten in der Regel nur eine Antipode realisiert vorkommt. So besteht der menschliche Körper aus komplizierten dissymmetrischen Molekülen. Diese Erkenntnis hat praktische Folgen für die Pharmazie, wenn es darum geht, die optimale Wirkung einer Antipode in einem Medikament herauszufinden oder es in jedem Fall vom menschlichen Körper fernzuhalten. Seit einigen Jahren liegen Ab-initio-Berechnungen der Quantenchemie vor, mit denen die beobachtete Chiralität auf eine physikalisch determinierte Selektion zurückgeführt werden könnte. Gemeint ist die Paritätsverletzung der schwachen Wechselwirkung, also die SU(2)xU(1)-Symmetriebrechung (vgl. Kap. IV.3). Die Erklärung mit der Paritätsverletzung der schwachen Wechselwirkung zeigt, daß eine subatomare gut bestätigte Symmetriebrechung sich auf den höheren Organisationsniveaus der atomaren, molekularen und makro-molekularen Systeme fortsetzt und zu meßbaren Wirkungen aufpotenziert.
In der Chemie wird dem rechts- und linkshändigen Exemplar eines chiralen Moleküls üblicherweise dieselbe Energie zugeordnet. Nach dieser Erklärung trägt die Paritätsverletzung der schwachen Wechselwirkung in einem Molekül zur elektronischen Bindungsenergie eine winzige Menge bei. Dieser Betrag ist zwar im links- und rechtshändigen Exemplar des Moleküls gleich, trägt aber wegen der Paritätsverletzung der schwachen Wechselwirkung ein unterschiedliches Vorzeichen „+“ bzw. „-“. Die Energie des einen Exemplars ist also ein wenig um diesen Betrag erhöht, das andere Exemplar um denselben Betrag vermindert. Die Differenz beider Energien heißt paritätsverletzende Energiedifferenz. {58}
Es wurden sogar mittlerweile präbiotische Reaktionsmechanismen vorgeschlagen, um die Entwicklung der linksdrehenden Aminosäuren oder rechtsdrehenden Zucker unter dem Einfluß der paritätsverletzenden Energiedifferenz im einzelnen zu rekonstruieren. Die individuellen Energiedifferenzen einzelner Moleküle sind sicher extrem klein. Selbst wenn diese Differenzen bei der Polymerisation proportional ansteigen, so bleiben sie unter Laborbedingungen noch sehr klein. In der Evolution war aber die Natur selber das Labor. So lassen sich z.B. für Aminosäuren exakt die präbiotischen Evolutionsbedingungen ausrechnen, unter denen die Homochiralität z.B. in einem See mit
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