Beck Wissen - Materie - Von der Urmateria zum Leben
Metallelektronen verwiesen. Ein alltägliches Beispiel ist das Auskristallisieren von Schnee- und Eiskristallen durch Absinken der Temperatur. Auch hier sind mikroskopisch für die Atome und Moleküle einer Flüssigkeit noch keine Raumrichtungen ausgezeichnet. Wenn ein kritischer Temperaturwert erreicht ist, werden jedoch bestimmte Richtungen ausgezeichnet, die sich makroskopisch z.B. in schönen Schneekristallen zeigen.
Konservative und dissipative Selbstorganisation sind offenbar Schlüsselkonzepte zur Erklärung von Ordnung in der Materie. Ordnung meint dabei stationäre Gleichgewichte, in denen sich Materie unter bestimmten Bedingungen stabilisiert. Anschaulich werden diese Zustände als Attraktoren bezeichnet, in denen die Entwicklungsbahnen des materiellen Systems bei bestimmten kritischen Schwellenwerten münden. Der Bifurkationsbaum eines offenen komplexen Systems zeigt die Vielfalt dissipativer Selbstorganisation bis zur chaotischen Irregularität auf.
Mathematisch ist bemerkenswert, daß die dazu notwendigen Phasenübergänge der Materie als Symmetriebrechungen verstanden werden können. {52} Mathematisch ist ferner bemerkenswert, daß diese Phasenübergänge der Materie durch nichtlineare Gleichungen beschrieben werden. Es handelt sich also um Wechselwirkungen von separierten Körpern, die sich nicht wie Wellen überlagern und daher das Superpositionsprinzip nicht erfüllen. Es herrscht der lokale Realismus, wie er aus der Alltagswelt mit ihren separierten Gegenständen und Ereignissen vertraut ist und von Einstein als adäquate Beschreibung der klassischen Physik herausgestellt wurde. Nach heutigem Wissen (vgl. Kap. III.3) ist der lokale Realismus der Alltagswelt ein Ergebnis der Symmetriebrechungen in der kosmischen Evolution der Materie.
VI. Materie in der Chemie
Von Stoffeigenschaften zu molekularen Modellen der Materie führte der historische Weg der Chemie. In der Quantenchemie werden molekulare Modelle auf die Quantenmechanik und damit die Physik zurückgeführt. Mit zunehmender molekularer Komplexität werden auch in der Chemie Selbstorganisationsprozesse der Materie nachgewiesen. Sie dienen teilweise bereits als Vorbild zur gezielten Herstellung neuer chemischer Verbindungen mit technischer und medizinischer Anwendung.
1. Materie in der frühen Chemie
Die Chemie als Lehre von den Umwandlungen der Stoffe entstand historisch aus technisch-praktischen Handwerkertraditionen, der Naturphilosophie und Alchimie. Mit Beginn der Neuzeit setzten sich Materiemodelle der Physik durch. {53} Ent-gegen alchimistischen und scholastischen Vorstellungen vertrat z.B. Robert Boyle (1627–1691) in seinem Buch The Scep-tical Chymist (1662) nachdrücklich eine mechanistische Korpuskulartheorie, wonach alle Eigenschaften der Materie auf Bewegung und Anordnung ihrer Teile zurückzuführen seien. Dazu mußten Grundbegriffe der Newtonschen Physik wie z.B. die Masse in die Chemie eingeführt werden. Zur Erklärung von Verbrennungsvorgängen wurde Anfang des 18. Jahrhunderts ein besonderer Stoff (,Phlogiston‘) angenommen, der bei jeder Verbrennung entweichen sollte. Bald wurden Einwände laut, daß ein Metall bei der Verwandlung in Kalk an Gewicht zunahm, während es nach der Theorie Phlogiston verlor. In diesem Fall läge ein negatives Gewicht vor. Andere Forscher wie Cavendish identifizierten Phlogiston zeitweise mit ,entflammbarer Luft‘, d.i. Wasserstoff. Trotz begrifflicher Unklarheiten war die Phlogistontheorie ein wichtiger Versuch einer einheitlichen Deutung chemischer Vorgänge.
Sie wurde durch die Oxidationslehre von Lavoisier (1743– 1794) abgelöst, der die Gewichtszunahme bei der Verbrennung richtig durch die Vereinigung der Stoffe mit dem Sauerstoff begründete. Lavoisier stützte seine Erklärungen auf genaue Wägungen der beteiligten Substanzen und der physikalischen Annahme von der Erhaltung der Massen. Atmungsversuche mit Tieren bestätigten, daß die atmosphärische Luft aus zwei verschiedenen Gasen (Sauerstoff und Stickstoff) bestand. Lavoisiers quantitative Meßmethoden führten zu einer Reformierung der chemischen Terminologie, die bis dahin teilweise noch Redeweisen aus der alchimistischen Tradition verwandte. Lavoisier gründete die chemische Methodologie auf experimentelle Erfahrung und Analyse der Substanzen, deren natürliche Ordnung in einer systematischen Terminologie festgehalten werden sollte. Dazu schlug er eine pragmatische Definition einfacher Substanzen
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