Beck Wissen - Materie - Von der Urmateria zum Leben
keine starre und isomorphe Abbildung der Außenwelt sein kann. Vielmehr handelt es sich um einen Lernvorgang, in dem schrittweise und unter ständigen Korrekturen ein Bild der Außenwelt entsteht. Einen richtungsweisenden Erklärungsansatz vom Standpunkt neuronaler Netze schlägt der Gehirnforscher Kohonen vor. Danach wird die Außenweltsituation, wie sie z.B. von der Retina des Auges registriert wird, auf eine neuronale Schicht übertragen, in der schrittweise während eines Lernvorgangs eine Art topographischer Karte der Außenwelt aufgebaut wird. Der Lernvorgang wird als Selbstorganisationsprozeß des neuronalen Netzwerks verstanden.
Während sensorische und motorische Karten zur Repräsentation von Wahrnehmungen und Bewegungen und ihrer sensomotorischen Koordination bereits gehirnphysiologisch untersucht und mathematisch modelliert wurden, stecken Untersuchungen über die neuronalen Erregungsmuster von Emotionen und Gedanken noch in den Anfängen. Es käme darauf an, die Dynamik dieser zerebralen Verschaltungsmuster empirisch zu untersuchen, ihre Attraktoren zu identifizieren und mathematisch zu modellieren. Die Theorie komplexer dynamischer Systeme, die fachübergreifend in Physik, Chemie und Biologie angewendet wurde, gibt jedenfalls bereits heuristische Hinweise für Forschungshypothesen.
Ein altes erkenntnistheoretisches Problem ist die Erklärung von Bewußtsein. Ist es bloß eine „Widerspiegelung“ materieller Zustände, wie Materialisten des 19. Jahrhunderts behaupteten? Ist es eine eigene „Substanz“ unabhängig von der „Materie“ in cartesischer Tradition? Heute liegen Erklärungsvorschläge von Gehirnforschern und kognitiven Psychologen vor, die sich in der Theorie komplexer dynamischer Systeme modellieren lassen. Wir erinnern zunächst noch einmal daran, daß ein wahrgenommener Sachverhalt der Außenwelt durch ein typisches neuronales Verschaltungsmuster repräsentiert werden kann. Denkt man über diese wahrgenommenen Sachverhalte nach, spricht man traditionell von Reflexion, d.h. in einem neuen Gedanken wird auf einen vorherigen Gedanken Bezug genommen. Man kann sich nun vorstellen, daß der Output des zerebralen Verschaltungsmusters, das den früheren Gedanken repräsentiert, als Input im nachgeschalteten neuronalen Muster des späteren Gedankens wirkt und dort Selbstorganisationsprozesse auslöst.
Damit entsteht eine Metarepräsentation, die beliebig iteriert werden kann: Ich denke darüber nach, wie ich über das Nachdenken über das Nachdenken ... nachdenke. Iterierte Metarepräsentationen von neuronalen Verschaltungsmustern sollen den Zustand von Bewußtseins- bzw. Selbstbewußtseinsbildung modellieren. Der Grad des Bewußtseins hängt von der Geschwindigkeit ab, mit der iterierte Metarepräsentationen gebildet werden können.
Damit löste sich auch das Rätsel auf, auf das bereits Leibniz aufmerksam machte ( Monadologie § 17): Wir finden im Gehirn lokal keine ,Substanz‘ mit dem Namen ,Bewußtsein‘, die alle Denkprozesse wie ein Zentralprozessor steuert. Dieser Name steht vielmehr für bestimmte globale Makrozustände neuronaler Netze, deren Dynamik vom heutigen Forschungs- Standpunkt aus möglicherweise mathematisch modellierbar und empirisch analysierbar ist. Kognitive Zustände, die mit Aktrvitätsmustern makroskopischer Neuronennetze korreliert sind, lassen sich nicht auf die elektrochemischen Vorgänge einzelner Neuronen reduzieren. Ob allerdings deshalb ein Makrozustand des Gehirns wie Bewußtsein, ein Gefühl oder Gedanke als immateriell‘ bezeichnet werden sollte, ist eine Frage der Definition. Für den Mediziner, Psychiater und Psychologen jedenfalls ist z.B. ,Bewußtsein‘ ein beobachtbarer und meßbarer Zustand. Davon zu unterscheiden ist allerdings der theologische Begriff der ,Seele‘, über den naturwissenschaftliche Forschung (wie bereits Kant wußte) nicht zu entscheiden vermag. Auch die personale Würde eines Menschen ist als rechtlich-ethische Kategorie nicht aus Naturgesetzen ableitbar. Allerdings können neue Einsichten in neurologische Prozesse des Gehirns die Spielräume von Verantwortung und Zurechnungsfähigkeit neu bestimmen.
In der Forschung hängt der Materiebegriff von den Beobachtungs- und Meßverfahren, Berechnungs-und Simulationsmethoden, Modellen und Theorien ab, die in den einzelnen Forschungsdisziplinen angewendet werden. Die bis heute bekannte Komplexität der Materie von den Elementarteilchen, Atomen und Molekülen bis zu physiologischen
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