Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
mit leeren Händen und einem strahlenden, stolzen Lächeln in Maggie’s Soup Kitchen. Sie hatte alle sechsundfünfzig Ausgaben der Sun verkauft!
Timothy beglückwünschte sie. »Ich hab’s doch gesagt! Und von der Post bleibt dir heute Nachmittag auch keine mehr an der Hand kleben!«
»Tja, man müsste jeden Tag so ein nettes, kleines Massaker haben...«, sagte einer der anderen abgebrühten Zeitungsjungen, die wie Timothy schon vor fast einer Stunde ihre Tour beendet hatten. »Das würde einem die Arbeit viel leichter machen.«
Becky musste zugeben, dass die Nachricht von dem Mountain Meadow Massaker, die tags zuvor per Telegraf an die Ostküste gedrungen war, einen nicht unwesentlichen Teil ihres Erfolges ausgemacht hatte. Indianer hatten am 14. September im Fernen Westen hundertzwanzig Siedler, die zu der Sekte der Mormonen gehörten, auf ihrem Weg nach Kalifornien in den Bergen überfallen und getötet.
»Du kannst doch nicht jeden Tag eine Geschichte mit Indianern im Blatt haben, die Frauen und Kinder abschlachten, Josh«, wandte ein anderer an ihrem Tisch trocken ein, der wegen einer kleeblattähnlichen Narbe auf der Wange auf den Spitznamen Clover hörte.
»Nee, muss ja auch nicht. Eine gekenterte Fähre oder eine öffentliche Hinrichtung tut’s auch«, warf ein dritter Zeitungsjunge namens Jerry trocken ein, während er seinen Suppenteller mit einem Stück Brot auswischte.
Als Becky mit ihrem Essen zu ihnen an den Tisch zurückkehrte, hatte sich das Gespräch einem anderen Thema zugewandt, nämlich der stark wachsenden Bewegung der Abolitionisten, wie die Gegner der Sklaverei genannt wurden, und den vielen Beiträgen, die darüber in den Zeitungen erschienen.
Im Kongress und im Senat gab es deswegen seit Jahren hitzige Debatten zwischen den bitter verfeindeten Verfechtern der Sklaverei und den Abolitionisten. Und von den Kanzeln der Kirchen, insbesondere in den Gotteshäusern der Methodisten, wurde die Sklaverei immer schärfer als unverzeihliches Verbrechen und als Versündigung an Gottes schwarzem Ebenbild angeprangert. Pamphlete und Bücher wie Onkel Toms Hütte, die das Leben der rechtlosen Schwarzen auf den Baumwollund Zuckerrohrplantagen im Süden schilderten, hatten großen Erfolg beim Publikum, auch als Theaterstücke.
»Ich finde, es ist schon eine verdammt wichtige Frage, ob die Sklaverei abgeschafft werden soll, so wie es nördlich von Virginia und in fast allen neuen Bundesstaaten im Westen der Fall ist...«, sagte Timothy gerade, als Becky wieder in ihrer Runde Platz nahm. »... oder ob die weißen Plantagenbesitzer im Süden weiterhin das Privileg haben dürfen, Sklaven zu besitzen und sie wie ein Stück Möbel nach eigenem Gutdünken verkaufen zu können.«
»Wen juckt denn schon, was mit den Niggern wird«, warf Clover abfällig in die Runde.
»Offenbar eine ganze Menge Leute!«, entfuhr es Becky ungehalten. Sie wollte ihm diese Aussage nicht unwidersprochen durchgehen lassen - schon wegen Coffin nicht. »Keiner sollte einen anderen Menschen besitzen dürfen!«
Clover blieb davon völlig unbeeindruckt und machte eine abwehrende Handbewegung. »Wirklich sehr rührend, Becky«, spottete er. »Aber wenn du mit der Ungerechtigkeit wirklich aufräumen willst, dann vergiss auch nicht all die armen Schweine von Bergleuten, Fabrikarbeitern und Dienstboten, um nur einige zu nennen. Die sind doch auch nicht viel besser dran als Leibeigene. Und was macht man denn mit uns irischen Einwanderern? Wir werden doch genauso bis aufs Blut ausgebeutet und unter der Knute gehalten! Mann, da hat es mancher Nigger im Süden noch besser als wir!«
»Es geht hier ums Prinzip«, sagte Timothy.
»Ach, ich pfeif doch aufs Prinzip!«, grollte Clover. »Das beschissene Prinzip von Freiheit und Gleichheit, das irgendwo in einem hübschen amerikanischen Gesetzestext steht, hat weder meine Eltern davor bewahrt, hier in New York elendig vor die Hunde zu gehen, noch hilft es mir, auch nur eine Zeitung mehr zu verkaufen!«
»Also mir ist es Jacke wie Hose, ob die Abolitionisten sich durchsetzen oder ob alles beim Alten bleibt«, gestand Jerry. »Aber was unseren Job angeht, so passt mir das ständige Gezeter der Anti-Sklaverei-Burschen immer weniger. Diese Geschichten über Sklaven, die von den Plantagen im Süden davonlaufen, sich bei uns im Norden verstecken und von Kopfgeldjägern gesucht werden, ließen sich anfangs ja noch ganz gut verkaufen. Aber mittlerweile locken diese immer gleichen Rührstücke doch
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