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Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!

Titel: Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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Hut wirkte Georgia Cunningham wie ein weithin erkennbarer Leuchtturm in stürmischer Brandung, und wie der mächtige Bug eines Dampfers schnitt sie durch die wogende Masse eine Bahn für ihre Schützlinge. Ihre Unerschrockenheit und geradezu mannhafte Zielstrebigkeit waren auch sehr vonnöten, insbesondere als sie auf den langen Bahnsteig gelangten, von dem sie zu ihrer Reise aufbrechen würden. Hier herrschten nämlich ein noch größeres Chaos und Stimmengewirr, hatten sich an jenem Morgen doch an die tausend Einwanderer aus Deutschland, Irland, Italien und anderen Ländern mit Sack und Pack auf diesem Bahnsteig eingefunden, die ebenfalls auf ihren Zug in den Mittleren Westen warteten.
    »Allmächtiger! Hier geht es ja zu wie beim Turmbau zu Babel!«, entfuhr es Becky, die in der linken Hand ihren Koffer trug und mit der rechten die Hand ihres Bruders hielt. Jeder von ihnen hatte am Morgen noch eine warme Decke erhalten, die mit einer Kordel an den Koffer gebunden wurde. In jenem Moment war Becky zum ersten Mal zu Bewusstsein gekommen, dass ihre Reise nicht einige wenige Tage, sondern womöglich eine gute Woche oder sogar noch länger dauern konnte, je nachdem wie schnell die siebenundachtzig Kinder neue Familien fanden. Und dass sie womöglich so manche Nacht im Zug verbringen würden.
    »So viele Leute passen doch gar nicht in einen Zug!«, sagte Daniel, eher staunend als besorgt.
    »Vielleicht kommen ja zwei«, erwiderte Becky, die sich ebenso wenig vorstellen konnte, dass all diese Menschen in einem Zug Platz finden sollten.
    »Da kommt er!«, rief jemand. »Der Zug fährt ein!«
    Aufgeregt reckten Kinder und Erwachsene den Kopf, als ein schwarzes Ungetüm von Lokomotive unter lautem Schnaufen und mächtige Dampfwolken ausstoßend aus der Richtung des Eisenbahndepots einfuhr - und eine lange Reihe Wagons hinter sich herzog. Aber es waren keine gewöhnlichen Passagierwagen, sondern boxcars , geschlossene Güterwagons, wie sie gewöhnlich für den Transport von Vieh und Waren aller Art eingesetzt wurden.
    »Das kann unmöglich unser Zug sein!«, sagte Becky.
    »Und wenn doch?«, fragte Daniel zurück. »All die anderen Leute machen sich schon zum Einsteigen bereit! Sieh doch!«
    »Unmöglich!«, beharrte Becky.
    Doch Georgia Cunningham schien zu ahnen, dass es sehr wohl ihr Zug war. Denn sie winkte herrisch einen der Bahnschaffner heran, die sich Mühe gaben, die zu den Wagons drängende Masse unter Kontrolle zu halten.
    »Das ist ja ein Einwandererzug!«, protestierte sie. »Wir von der Children’s Aid Society haben es schriftlich, dass uns zwei reguläre Passagierwagen zugeteilt werden! So ist es mit der Eisenbahnverwaltung ausgemacht! Hier ist das Schreiben!« Sie zog einen Brief unter ihrem Cape hervor und hielt es dem Mann hin.
    »Tut mir Leid, Ma’am«, antwortete der Bahnschaffner bedauernd, »aber das war leider nicht möglich. Fragen Sie mich nicht, warum, aber es ist nun mal so. Passagierwagons stehen Ihrer Gruppe erst in Auburn Heights zur Verfügung, wie man uns mitgeteilt hat.«
    »Aber das gilt dann ja erst für unsere Weiterreise übermorgen ! Und Mister Brace, der Leiter unserer Gesellschaft, ist persönlich bei Ihrer Direktion vorstellig geworden und hat die Zusicherung erhalten, dass so etwas nicht wieder passiert!«
    Der Bahnschaffner machte eine entschuldigende Geste. »Das will ich Ihnen gern glauben, Ma’m, aber ich habe auf die Entscheidung der hohen Herren keinen Einfluss. Sie müssen sich jetzt schon entscheiden, ob Sie mit zwei boxcars vorlieb nehmen oder ob Sie die Reise nicht antreten wollen. Das liegt ganz bei Ihnen, Ma’am. Aber überlegen Sie es sich nicht zu lange. Denn wenn erst der allgemeine Sturm auf die Wagons beginnt, bleibt Ihnen keine Zeit, gute Plätze für Ihre Waisen zu finden.«
    »Das ist ein Skandal!«, empörte sich Georgia Cunningham, und Becky hätte sich nicht gewundert, wenn sie dem Mann mit ihrem Spazierstock einen wütenden Hieb versetzt hätte.
    Der Bahnschaffner zuckte nur die Achseln und trat zum nächsten Wagon, um den eisernen Sicherungshaken der Schiebetür umzuklappen.
    Georgia Cunningham verlor nun keine Zeit mehr, sich über den Wortbruch der Eisenbahngesellschaft zu empören, sondern fand sich mit dem Unausweichlichen ab. Sie wandte sich an die Kinder und ihre beiden Begleiter und rief ihnen zu: »So bitter es ist, aber wir haben keine andere Wahl, als unsere Reise mit diesem Einwandererzug zu beginnen! Übermorgen werden wir es bequemer haben -

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