Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
Reisekleidung abgelegt und die Sonntagsgarderobe aus dem Koffer geholt.
Um vier Uhr hieß es, unten im Speisesaal antreten. Georgia Cunningham nahm eine letzte Inspektion vor. Sie überzeugte sich davon, dass alle saubere Fingernägel hatten, schloss hier einen offenen Knopf und richtete dort eine Haarspange. Sie sollten so ansprechend wie möglich aussehen.
Zum Abschluss erteilte sie noch die Ermahnung, bei der Präsentation weder zu schüchtern noch zu aufdringlich zu sein, wenn möglich ein wenig Vertrauen erweckend zu lächeln und jede Frage mit höflicher Bescheidenheit zu beantworten. »Und denkt immer daran, dass eure zukünftigen Eltern vor euch stehen können. Also benehmt euch danach!« Und dann gab sie das Zeichen zum Abmarsch. »Miss Kingsbury, Mister Hamilton, lassen Sie Zweierreihen mit großzügigem Abstand zum Vordermann bilden.«
»Ja, aber bisher wollten Sie doch immer...«, setzte George Hamilton an.
»Wir befinden uns in einer Kleinstadt, Mister Hamilton, sofern man den Begriff sehr großzügig fasst, und wir suchen an diesem Ort für unsere Schützlinge ein neues Heim«, fiel ihm die Reiseleiterin belehrend ins Wort. »Hier geht es nicht darum, die Kinder auf möglichst engem Raum zusammenzuhalten, wie es im Hexenkessel von New York nötig gewesen ist, sondern hier in Auburn Heights heißt unsere vordringlichste Aufgabe: Aufmerksamkeit erregen! Je länger also die Schlange der Waisenkinder ist, die sich über die Main Street bewegt, und je mehr Leute stehen bleiben und sich womöglich wieder an das erinnern, was sie in den letzten Tagen auf einem der Plakate gelesen haben, desto besser für unsere Kinder!«
George Hamilton machte zuerst ein verblüfftes Gesicht. Dann lachte er verlegen auf und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn, weil ihm dieser Gedanke nicht selbst gekommen war. »Natürlich! Ich verstehe, Missis Cunningham!«
Sie lächelte nachsichtig. »Und nun los! Wir wollen doch nicht zu spät zu unserer ersten Präsentation kommen und die guten Bürger von Auburn Heights und Umgebung warten lassen!«
Becky reihte sich mit ihrem Bruder in die lange Schlange der Waisenkinder ein, die in geordneten Zweierreihen das Hotel verließen und die Main Street hochgingen.
»Kannst du mir mal verraten, wie man Vertrauen erweckend lächelt?«, fragte Daniel leise, während alle anderen auf Missis Cunninghams Zuruf hin das im Zug oft geübte Lied Jesus loves me sangen. »Dora und Susan, die beiden neunjährigen Zwillinge, die sind fein raus. Hast du gesehen, wie die auf Kommando zuckersüß lächeln können? Und der pausbäckige Leo, der im Zug auf der Bank vor uns gesessen hat, versteht sich auch ganz toll darauf, herzerweichend verschmitzt zu lächeln.«
»Na, ich weiß nicht«, sagte Becky und fühlte sich unwohl bei all den Blicken, die sich auf ihre lange Kolonne richteten. Die Aufmerksamkeit, die Missis Cunningham sich gewünscht hatte, wurde ihnen zuteil. Überall blieben die Leute auf der Straße stehen, traten aus den Läden und beugten sich aus Fenstern, um sich dieses Schauspiel nicht entgehen zu lassen! Man tuschelte, zeigte mit Fingern auf sie und musterte sie kritisch. Ein Vorgeschmack auf das, was sie wohl gleich in der Kirche erwartete!
»Und wenn schon. Sie werden jedenfalls bestimmt kein Problem haben, auf Anhieb eine Familie zu finden. Und siebenundachtzig Kinder sind eine verdammt große Konkurrenz, Becky!«, sagte er leise, während sie dem Rathausplatz zustrebten, wo sich auch die schneeweiße Methodistenkirche St. Luke mit ihrem spitzen Giebelturm in den frostig klaren Nachmittagshimmel erhob.
»Sei einfach du selbst, und wer uns nicht haben will, der hat uns auch nicht verdient!«, erwiderte Becky, die sich im Stillen darüber wunderte, wie verschieden sie und ihr Bruder doch waren. Während sie sich unter den gaffenden Blicken der Fremden wie ausgezogen fühlte, berührte Daniel das offensichtlich nicht im Geringsten. Ja, er nahm es noch nicht einmal richtig wahr. Ihn beschäftigte allein die Sorge, wie sie bei all dieser »Konkurrenz« in den eigenen Reihen wohl abschneiden würden.
Wenn das Gaffen der Leute auf der Straße Becky schon Unbehagen bereitet hatte, so war diese peinliche Aufmerksamkeit doch nichts im Vergleich zu dem, was sie und alle anderen Waisenkinder in der fast schmucklosen Kirche erwartete. Dort hatte sich schon jetzt eine beachtliche Menschenmenge eingefunden. Die meisten von ihnen waren in der derben Arbeitskleidung der Farmer
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