Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
brauchte als zwei warme Mahlzeiten am Tag. Ihr war, als sähe sie ihn zum ersten Mal mit unverstelltem Blick, wie er da in seinen schäbigen, abgerissenen Kleidern vor ihr stand, dünn bis auf die Knochen und mit einem schmalen Gesicht, dessen müde Augen das Lachen und die kindliche Freude schon vor einer Ewigkeit verlernt zu haben schienen.
»Du hast ja Recht«, sagte sie und legte ihm einen Arm um die Schultern. »Ich hätte nicht noch einmal davon anfangen sollen. Wir haben wirklich nichts zu verlieren. Also kein Wort mehr darüber, einverstanden?«
Er nickte.
»Gut. Und jetzt lass uns ins Haus gehen und mit diesen Leuten reden...!«
Sie begaben sich in den zweiten Stock, wo die Children’s Aid Society ihre Büroräume hatte, und traten durch eine offen stehende Tür in ein großes Vorzimmer. Zu beiden Seiten der Tür standen an den Wänden lange Holzbänke, auf denen gut ein Dutzend Kinder saßen, Mädchen und Jungen im Alter zwischen sechs und sechzehn Jahren. Auch die beiden Mädchen, die ihnen vor wenigen Minuten mit der adrett gekleideten Frau vor dem Haus begegnet waren, befanden sich darunter. Aber bis auf diese beiden sahen alle anderen nicht nach Straßenkindern aus, trugen sie doch recht gute Kleidung. Auch sah ihr Haar frisch gewaschen und sorgfältig gekämmt aus. Sie rochen sogar nach Seife.
Zwei, drei Schritte von den Bänken entfernt trennte eine lange Theke den Raum der Länge nach. Dahinter standen zwei Schreibtische, an denen Frauen saßen und Papiere ausfüllten. Ein Mann mit hoher Stirn, einem Vollbart und schon stark gelichtetem Haupthaar stand an einem Karteischrank.
Er blickte auf, als Becky mit ihrem Bruder ins Zimmer trat, an der Tür stehen blieb und sich unsicher umschaute. Sofort schloss er die Schublade des Aktenschranks und kam durch die hüfthohe Pendeltür zu ihnen.
»Kommt nur herein!«, rief er ihnen zu und schenkte ihnen ein freundliches Lächeln. »Mein Name ist Reverend Brace. Was kann ich für euch tun, Kinder?«
»Eigentlich… wollten wir nur wissen…«, begann Becky schüchtern. »Das hier ist doch die Children’s Aid Society , nicht wahr?«
»In der Tat, das ist sie.«
»Wir wollen nach Westen!«, platzte Daniel mutig heraus und errötete dabei, als schämte er sich, diesen Herzenswunsch vor all den anderen Kindern auszusprechen. »Wir möchten zu einer Familie, die Kinder wie uns aufnimmt!«
Reverend Brace lachte. »Da seid ihr bei uns richtig. Kommt ins Nebenzimmer, da können wir in Ruhe über alles reden«, sagte er und führte sie nach links in ein Zimmer, wo vor einem hohen Bücherschrank ein weiterer, mit allerlei Papieren und Unterlagen beladener Schreibtisch und davor mehrere Stühle standen. Er schloss die Tür hinter ihnen und forderte sie freundlich auf, Platz zu nehmen, während er sich selbst auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch setzte.
»So, und jetzt erzählt mir zuerst einmal, wie ihr heißt, wie alt ihr seid und woher ihr kommt«, bat er sie und griff dabei nach Papier und Feder.
»Mein Name ist Becky Brown, ich werde im August fünfzehn, und das ist mein Bruder Daniel. Er ist jetzt zehn«, begann Becky.
»Und wir sind katholisch!«, fügte Daniel hastig hinzu.
»So«, sagte Reverend Brace und kritzelte etwas auf das Blatt.
Dieses »So« klang in Beckys Ohren wie ein mitleidiger Seufzer, und sie warf ihrem Bruder einen Blick zu, als wollte sie sagen: »Habe ich es dir nicht gesagt?«
»Sie nehmen doch auch katholische Kinder, nicht wahr?«, fragte Daniel ängstlich.
»Natürlich, mein Junge«, sagte Reverend Brace. »Vor Gottes Angesicht sind wir alle gleichermaßen Sünder, die seines großen Erbarmens bedürfen. Und was könnt ihr für den Glauben, in dem euch eure Eltern erzogen haben?«
Becky verspürte den Impuls, ihm zu erwidern, dass sie ihren Eltern nichts vorzuwerfen hatten und dass ihr Glaube so gut war wie jeder andere. Aber wegen Daniel beherrschte sie sich und schluckte ihren Groll über die Geringschätzung hinunter, die sie aus seinen Worten herauszuhören glaubte.
Der Reverend wollte nun wissen, ob sie noch Eltern besaßen und wenn nicht, wann sie gestorben waren, und ob sie in Amerika Verwandte oder sonst jemand hatten, der sich um sie kümmerte.
In knappen Sätzen berichtete Becky vom Tod ihrer Eltern und dass sie auf der Straße lebten und sich als Zeitungsverkäufer und Schuhputzer durchschlugen.
»Und ihr möchtet nun wieder eine Familie haben«, sagte Reverend Brace und legte die Schreibfeder aus der
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