Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
der Lokomotive aufgefüllt wurde. Diese Aufenthalte nahmen recht viel Zeit in Anspruch. Wer sich die Beine vertreten wollte oder einem menschlichen Bedürfnis nachgehen musste, hatte dann Gelegenheit, auszusteigen und sich im Freien aufzuhalten, bis das schrille Dampfsignal zur Weiterfahrt ertönte.
Georgia Cunningham bemühte sich nach besten Kräften, die Eintönigkeit der Fahrt durch Ratespiele, Vorlesen und das Einüben von christlichen Liedern zu unterbrechen. Aber da die meisten in der Nacht vor ihrer Abreise wenig Schlaf gefunden hatten, gab sie ihre wohl gemeinten Bemühungen bald auf, als sie sah, wie den Kindern nach und nach die Augen zufielen und sie auf ihren Bänken einschliefen, einer gegen den anderen gesunken.
Bevor auch Becky vor ihrer Müdigkeit kapitulierte, dachte sie noch eine ganze Weile an den Abschied von Coffin und Timothy am gestrigen Abend zurück, bei dem sich Timothy im letzten Augenblick noch einmal zu ihr vorgebeugt und ihr einen Kuss auf die Wange gegeben hatte. Damit hatte er sie fast zu Tränen gerührt. Beide fehlten sie ihr. Und schon halb im Schlaf, fragte sie sich zum wiederholten Mal, ob es wirklich klug von ihr gewesen war, Daniels Drängen nachzugeben und sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Aber nun war es geschehen. Und die einzige entscheidende Frage lautete nur noch: Wer würde sich ihrer und ihres Bruders wohl annehmen? Gab es solch eine Familie überhaupt, die Daniel und sie bei sich aufnehmen wollte?
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A LS der frische Aprilmorgen heraufdämmerte, keuchte sich der lange Auswandererzug durch die Bergketten der Blue Mountains von Pennsylvania. Überall auf den Gipfeln der dicht bewaldeten Bergrücken lag noch Schnee, der an manchen Stellen bis weit in die Täler hinabreichte und im Licht der aufgehenden Sonne erst in einem zarten Gelb und Rosa aufleuchtete, um dann in blendendem Weiß zu erstrahlen. Das bergige Gelände erschöpfte den Wasservorrat der Lokomotive schneller als das Flachland von New Jersey, sodass der Zug häufiger als am Tag zuvor an kleinen Stationen Halt machen und sich den Rüssel der dortigen Wassertanks einführen musste.
Erst kurz nach Mittag erreichten sie die Ortschaft Auburn Heights, die nicht weit von der nächstgrößeren Stadt Harrisburg entfernt lag. In dieser noch jungen Siedlung sollte ihre erste »Präsentation« stattfinden.
Als die Waisenkinder die Wagons verließen und sich auf dem zugigen Bahnsteig sammelten, fiel Daniels Blick auf ein Plakat, das an der Wand zum Warteraum hing. »Becky! Sieh doch mal! Damit sind bestimmt wir gemeint!«
Becky wandte den Kopf und las nun auch, was dort angeschlagen stand. Waisenkinder suchen ein Zuhause! , lautete die Überschrift in fetten schwarzen Lettern, und darunter fanden sich in etwas kleinerer Schrift die Zeilen: Eine Gruppe von Waisenkindern unterschiedlichen Alters trifft am 2. April 1859, von New York kommend, in Auburn Heights ein. Die Präsentation der Kinder findet um 16 Uhr 30 in der Methodistenkirche St. Luke auf der Main Street statt. Alle sind eingeladen zu kommen. Dann folgte ein langer Absatz Kleingedrucktes, an den sich am Ende des Plakats wieder in größerer Schrift die Adresse eines örtlichen Kontaktbüros sowie der Name Vernon Clark, Pennsylvania Agent anschlossen.
»Vielleicht finden wir hier schon eine Familie, Becky!«
»Rechne besser nicht zu fest damit«, dämpfte sie seinen Optimismus. »Es wird seinen Grund haben, warum die Organisation in New York davon ausgeht, dass die Reise nicht schon hier, sondern erst irgendwo im Prärieland von Indiana endet.«
Alle Kinder empfanden es als angenehme Überraschung, dass sie sich nicht direkt von der Bahnstation in die Methodistenkirche begaben, sondern von Georgia Cunningham zuerst in das gegenüberliegende Hotel geführt wurden, das Reisenden mit bescheidenen Ansprüchen eine preiswerte Übernachtungsmöglichkeit bot.
»Hier müssen wir euch erst einmal wieder präsentabel machen!«, verkündete Georgia Cunningham im großen Speiseraum, bevor sie in kleinen Gruppen auf die Zimmer verteilt wurden.
Eine gründliche Reinigung war nach der langen Fahrt bei offener Schiebetür auch dringend geboten. Kleidung, Gesichter und Haare waren vom Ruß sichtlich gezeichnet. Kübel mit warmem Wasser wurden in die Zimmer geschleppt und in große Waschbecken gekippt. Nachdem sie sich unter den kritischen Blicken ihrer Reisebegleiter Gesicht und Arme gewaschen hatten und von ihnen frisch frisiert worden waren, wurde die
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