Beerensommer
sie und trotz einiger fehlender Zähne sah sie plötzlich richtig schön aus. »Und wir halten auch zusammen, so gut es geht. Nicht wahr, Johannes?«
Als habe er ein geheimes Zeichen erhalten, nahm Johannes den Topf und goss der Kleinen noch einmal ein. Er nickte und sagte leise: »Sie können sie mir ja später wiedergeben.« Instinktiv griff er noch einmal Lenes Worte auf, denn er spürte, dass das für Frau Weckerlin wichtig war. Es war eine letzte Schranke, die sie brauchte, hinter der sie sich einrichten konnte, hier mitten unter ihnen. Ermutigt fuhr Johannes fort: »Ich gehe nachher hinauf in den Wald. Auf dem Katzenbuckel gibt es noch Brombeeren. Ich weiß ein paar gute Stellen. Die Guste und der Ludwig und der Otto von den Mühlbecks gehen auch mit. Wir verkaufen sie dann in Wildbad, im ›Badhotel‹, dort zahlen sie zwanzig Pfennig für das Pfund. Das ist viel, weil es späte Beeren sind.«
Er zögerte, sah in Friedrichs Richtung und fragte dann stockend: »Möchtest du nicht mitkommen? Wir teilen das Geld. Und in der Sonne ist es schön dort oben, und ...«
Weiter kam er nicht, denn Friedrich war plötzlich aufgesprungen und mit einem Satz zur Tür gehechtet, die krachend hinter ihm zufiel. Die Kleine zuckte zusammen und verschüttete etwas von der Milch, die ihr in kleinen Bächen am Kinn hinunterlief. Sie starrte für einen Moment mit finster zusammengezogenen Brauen auf die Tür, hinter der der große Bruder verschwunden war, und begann wieder durchdringend zu plärren. Johannes wandte sich ebenfalls zur Tür. Die Hitze der Beschämung war ihm wieder ins Gesicht gestiegen und er fühlte sich, als ob man ihn geschlagen hätte. Im Hinausgehen packte ihn Lene am Ärmel und flüsterte ihm unter dem Schutz des Wutgeheuls ins Ohr: »Mach dir nichts draus. Für ihn ist es am schwersten. Die Kleinen kapieren noch gar nicht richtig, was passiert ist.«
Johannes drückte kurz Lenes Hand und ging dann langsam nach oben, wo Geräusche verrieten, dass die Ahne jetzt aufgestanden war. Durch die untere Tür kam der alte Mühlbeck gerade vom Abtritt, er zog noch im Hineingehen die Hose hoch und begann sie ungeniert vorne zuzuknöpfen. Gestank wehte von draußen mit ihm herein; Gestank, der sich mit dem vertrauten Stadtmühlengeruch vermischte. Dem Geruch nach gekochten Kartoffeln, säuerlichem Schweiß und modrigen Wänden. Johannes lehnte sich an das wacklige Treppengeländer und schloss die Augen. Er versuchte sich vorzustellen, er sei Friedrich Weckerlin und rieche zum ersten Mal die Stadtmühle, hörte zum ersten Mal die Stadtmühle, mit ihrem Kindergeplärr und Gezänk und den knarrenden Dielen und surrenden Mücken. Er stand für einen Moment reglos da, roch und hörte, dann öffnete er resigniert die Augen. Es hatte keinen Sinn, er kannte ja nichts anderes. Aber tief in ihm drin war eine Ahnung von der Angst und dem Schmerz und der Wut, die sich seit letzter Nacht in Friedrich hineingefressen hatten.
Am nächsten Morgen wartete Johannes nicht das Läuten des Schülerglöckchens ab, das um drei viertel sieben die Grunbacher Kinder zur Volksschule rief. Er war schon nach dem Läuten der Kirchenglocken um fünf Uhr aufgestanden und hatte mit angehaltenem Atem auf die Geräusche gewartet, die bald von unten heraufdringen mussten. Aber außer dem üblichen Rumoren der Mühlbecksippe war nichts nach oben gedrungen.
Endlich, kurz nach halb sieben, erspähte er einen dunklen Schatten, der aus dem Zimmer, wo man die Weckerlins untergebracht hatte, geräuschlos zur Haustür huschte. Johannes stand reglos am Treppengeländer und trank die restliche Milch aus dem blau getupften Krug.
Kein Zweifel, das war Friedrich Weckerlin, der sich viel zu früh zur Schule aufmachte. Johannes rannte hinüber zu einem der Dielenfenster und konnte die dunkle, schmale Gestalt noch kurz sehen, bevor sie hinter der Kirche verschwand. Gedankenverloren wischte er sich den weißen Milchbart vom Mund ab.
Der junge Weckerlin wollte also um keinen Preis mit den Stadtmühlenkindern zur Schule gehen. Lieber stand er viel zu früh auf und wartete vor dem hohen Eingangsportal der Schule, das erst kurz vor Unterrichtsbeginn vom Pedell aufgeschlossen wurde. Und er passt auch gar nicht zu uns, dachte Johannes trotzig und wunderte sich über sich selbst. Wunderte sich, warum das nagende Gefühl der Enttäuschung plötzlich in ihm so übermächtig wurde.
Richtig vornehm hatte er ausgesehen, der Friedrich Weckerlin in der dunkelblauen Matrosenjacke
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