Beerensommer
sie noch. Und dann ...? Der kleine Wilhelm würde sie bekommen, aber was war mit Friedrich?
Nein, schon bald würde er hineingestoßen werden in diese Welt und nichts war mehr undenkbar.
Von unten hörte er das Rumoren der Mühlbeck-Kinder und Guste rief nach ihm. Eilig sprang er die Treppe hinunter. Das Schülerglöckchen hatte schon geraume Zeit aufgehört zu läuten und sie mussten sich beeilen. Zu spät kommen wurde mit einer Tatze bestraft, einem Schlag mit dem Rohrstock auf die Innenfläche der ausgestreckten Hand, der sehr schmerzhaft war. Oft war die Hand einige Zeit geschwollen, und wenn es die rechte war, die sich einige Lehrer ganz bewusst aussuchten, hatte man große Schwierigkeiten mit dem Schreiben und dem Arbeiten.
Guste war schon vorausgerannt und Johannes bahnte sich mit Ludwig und dem jüngeren Otto den Weg durch die dampfenden Leiber der Kühe, die aus den Ställen der umliegenden Häuser gemächlich herausgetrottet waren und sich an der Rathaustränke drängelten. Ihr Muhen vermischte sich mit dem leisen Bimmeln der Glocken, die sie um den Hals trugen. Der süßlich erdige Geruch, der von ihnen herüberwehte, war den Kindern seit ihren frühesten Erinnerungen vertraut. Die Grunbacher, die es sich leisten konnten, hielten sich eine Kuh, denn ihre Milch rettete die Familien, vor allem die Kinder, über die kargen Wintermonate, in denen die Väter nichts verdienten. Die meisten Grunbacher lebten vom Holzeinschlag oder der Flößerei und dieser Arbeit konnte man eben nur im Sommer nachgehen. Deswegen waren die Winter oft sehr hart, vor allem wenn die Väter das Geld in die vielen Gastwirtschaften trugen, anstatt etwas zurückzulegen.
Johannes beobachtete manchmal die Frauen mit den harten, eingefallenen Gesichtern, wenn sie am Samstagabend vor den Sägewerken standen, um die Männer abzufangen und so viel wie möglich von den knisternden Scheinen und den klimpernden Münzen in der Lohntüte zu ergattern, bevor es auf Nimmerwiedersehen in den »Wilden Mann« oder »Grünen Baum« wanderte. Einige Grunbacher, die sich besonders glücklich schätzen konnten, hatten einen kleinen Kartoffelacker an den Hängen der Schwarzwaldberge. Zusammen mit der Milch bildete das die Grundlage ihres Überlebens.
Die Kinder bogen nun in die Herrengasse ein und rannten die letzten Meter bis zur Treppe, die hinauf zur Volksschule führte. Johannes überlegte dabei, wer ihn dieses Jahr wohl beim Kartoffelklauben helfen ließ. Dabei fielen einige Kartoffeln ab und sein Magen krümmte sich für einen Moment schmerzhaft zusammen, wenn er an die hellgelbe, krümelige, heiße Masse dachte, die frisch gekocht mit etwas Salz so unvergleichlich gut schmeckte. Vor den Kindern erhob sich jetzt der Stolz der Grunbacher: die vor einigen Jahren neu erbaute Volksschule, ein massiger Bau aus rötlichem Sandstein mit zwei spitzen Giebeln auf beiden Seiten. Im mittleren Teil, den ein kleines Walmdach deckte, hing oben eine riesige Uhr, deren Zeiger unerbittlich nach vorne rückten.
»So ein Mist, wir kommen zu spät«, fluchte Ludwig und Johannes spürte schon den pfeifenden Schlag des Rohrstocks. Aber sie hatten Glück. Die Klassenzimmertüren standen noch weit offen und die Lehrer hatten sich in der Mitte des großen Flures unmittelbar hinter dem Treppenaufgang versammelt. Sie steckten die Köpfe zusammen und schienen in eine erregte Diskussion vertieft zu sein, in deren Mittelpunkt der Lehrer Prange stand, ein junger, schmaler Mann mit einem keck nach oben gezwirbelten Bärtchen, das allerdings in krassem Gegensatz zu den nervös zuckenden Augenlidern stand. Er war der Klassenlehrer der vierten Klasse und überdeckte seine Hilflosigkeit und Unsicherheit gegenüber den Schülern mit ständigem Prügeln oder erniedrigenden Strafen wie stundenlanges In-der-Ecke-Stehen. Deshalb verachteten ihn die Schüler. Die Reichen und Angesehenen in den hinteren Bänken genauso wie die Armenhäusler ganz vorne und er spürte diese Verachtung und prügelte weiter, stumm, mit zusammengepresstem Mund und nervös zuckenden Augenlidern.
Scheu drückten sich Guste und Johannes an der Gruppe vorbei und versuchten unbemerkt in das Klassenzimmer zu gelangen, Ludwig und Otto waren schon vorher in die Zimmer der ersten und dritten Klasse gerannt.
Im Vorübergehen schnappte Johannes einige Gesprächsfetzen auf und spitzte die Ohren. Tatzen und Prügel waren ihm jetzt egal, es ging um etwas, das ihn brennend interessierte. Deshalb blieb er unmittelbar hinter
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