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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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der Tür stehen.
    » ... können wir nicht mehr zulassen ... Vater ... Selbstmörder und Bankrotteur ... schon einige Anfragen ...«, konnte er verstehen und beobachtete, wie sich der kleine, schmale Prange unter dem Worthagel wand und duckte. Ein großer, beleibter Mann mit geröteter Nase, vor dessen ausladendem Bauch herausfordernd eine goldene Uhrkette hing, stupste Prange schließlich mit einem dicken Zeigefinger an die gestärkte Hemdbrust. Das war der Rektor, Herr Kugler. »Sie werden jetzt das Nötige veranlassen. Wo kommen wir denn hin ...«, mehr konnte Johannes nicht verstehen, denn die Gruppe löste sich plötzlich auf. Die Hände auf dem Rücken verschränkt stoben die schwarz gekleideten Gestalten wie Feldkrähen auseinander und verschwanden einer nach dem anderen hinter den hohen schweren Holztüren der Klassenzimmer.
    Johannes machte, dass er so schnell wie möglich in seinen Klassenraum kam, er musste unbedingt vor Prange dort sein. Unauffällig schob er sich in die zerschrammte Bank, wo sein Nachbar halb dösend saß. Keines der Kinder hatte zu Beginn des Schuljahres neben dem Geißen-Willi sitzen wollen, einem zaundürren Kerlchen, das durchdringend nach Ziege stank, denn seine Eltern hielten in einem halb verfallenen Häuschen im Unterdorf zwei Geißen. Johannes hatte sich damals erbarmt und sich schließlich freiwillig neben ihn gesetzt. Er hatte Mitleid mit dem Jungen, der irgendwie nicht so gut mitkam. Der Willi wollte so gerne die Buchstaben in der richtigen Reihenfolge schreiben und auch die Zahlen richtig zusammenzählen oder abziehen, aber in seinem Kopf gehe immer alles so durcheinander, hatte er Johannes einmal treuherzig anvertraut, und wenn der Lehrer ihn dann anbrülle, wisse er gar nichts mehr. Er hing Johannes in fast hündischer Ergebenheit an, denn Johannes war klug und er ließ ihn, sooft es ging, abschreiben. Das hatte ihm viel Prügel erspart, die regelmäßig auf ihn herabprasselten, weil er wieder einmal eine Antwort nicht gewusst hatte, und die er wie ein Tier in stumpfer Ergebenheit hinnahm.
    Plötzlich wurde es still in der Klasse, die Kinder schnellten auf und standen stramm neben den Pulten, als Prange hereintrat. Es lag etwas in der Luft, das ahnten sie, spürten sie, rochen sie förmlich, wie das Vieh auf der Weide, wenn ein Gewitter heranzog. Und es ging wohl um den da, den Friedrich Weckerlin, den stolzen Weckerlin in seinem Matrosenanzug und seinen festen, genagelten Schuhen. Er saß ganz hinten beim Sohn des Apothekers, dem Wilhelm Gutbrod, der schon von ihm weggerückt war, als sei ein unsichtbarer Kreis um Friedrich gezogen. Und auch der Ludwig Stölzle, der Sohn vom Doktor, und der große, starke Martin Bodamer, dessen Vater die größte Baufirma am Ort besaß, hatten vorhin kaum mit ihm geredet. Die waren doch sonst die dicksten Freunde! Aber es war etwas mit dem Friedrich geschehen. Der Vater war in die Enz gegangen, im Suff, wie die Eltern sagten, und weil er bankrott war. Und jetzt war das Ungeheuerliche geschehen, dass die Weckerlins gar nichts mehr hatten, weniger als sie selbst. Dass sie nun in der Stadtmühle hausten, das wussten alle. Und dass jetzt das Unvermeidliche kommen würde, das ahnte man auch.
    Prange stand vor der Klasse und räusperte sich mehrmals, dann nahm er den Kneifer ab und putzte ihn angelegentlich, wobei er die Klasse aus halb geschlossenen Augen musterte. Jetzt spielt er wieder den scharfen Hund, dachte Johannes belustigt. Das tat er immer, wenn er besonders aufgeregt war. Aber es verfing nicht, keiner nahm es ihm ab, denn die zitternden Hände und die nervös zuckenden Augenlider verrieten ihn. Plötzlich setzte er den Kneifer auf, betrat die Stufe zum erhöht stehenden Lehrerpult und sagte mit seiner heiseren Fistelstimme, die stets zu kippen drohte: »Friedrich Weckerlin, du setzt dich hier vorne hin, zu ...«, er ließ den Blick über die vorderen zwei Reihen schweifen, »du setzt dich hierher zu Egidius Rotter.« Der Platz neben Egidius war in der Tat der einzige freie Platz in der vorderen Reihe, denn der »Buckel-Gide«, wie er wegen seines verkrümmten Rückens genannt wurde, kam in der Rangfolge der Klasse noch hinter dem Geißen-Willi. Und jetzt musste der Weckerlin neben dem Buckel-Gide sitzen, welch doppelte Schande!
    Es war still im Klassenzimmer, so still, dass man das rasselnde Atmen vom Geißen-Willi hören konnte, der irgendetwas mit den Lungen hatte. Keines der Kinder wagte sich umzudrehen und Johannes merkte

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