Beerensommer
plötzlich, wie er den Blick starr auf das Tintenfass gerichtet hielt, das vorne in das Pult eingelassen war.
Die Stille tat ihm weh, der Schmerz zog sich von unten bis zu den Schulterblättern, überflutete den ganzen Körper und deutlich spürte er sein Herz pochen. Aber nein, es war nicht die Stille, die wehtat, es waren die Scham und die Demütigung des anderen, den er so oft aus der Ferne bewundert hatte. Friedrich schien der Aufforderung nicht nachzukommen, denn von oben schnarrte Prange ungeduldig: »Etwas schneller, wenn ich bitten dürfte. Ich handle nur auf höhere Anweisung!« Den letzten Satz stieß er rasch heraus, als schämte er sich, ihn auszusprechen, und Johannes betrachtete ihn aufmerksam.
Nein, Prange hatte vorhin in dem Gespräch mit den anderen Lehrern nicht widersprochen, weil ihm Friedrich leid tat, wie er für einen Moment verblüfft gedacht hatte, Prange war einfach feige, wollte sich dem hier nicht aussetzen, weil er nicht einschätzen konnte, wie die Schüler und besonders Friedrich reagieren würden. Aber im Zweifelsfall konnte man sich hinter der Anweisung von oben verstecken.
So einer war der Prange! Und wie falsch er wieder einmal seine Schüler eingeschätzt hatte! Als ob einer von ihnen sich für Friedrich einsetzen würde. Den armen Dorfkindern war er egal, er hatte früher nicht zu ihnen gehört und sie würden ihn, wenn überhaupt, nur widerwillig akzeptieren. Und die Bürgerskinder, die aus den angesehenen und wohlhabenden Familien kamen – nun, die würden sich hüten!
Er gehörte einfach nicht mehr dazu. Sohn eines Selbstmörders und Bankrotteurs! Wahrscheinlich hatten die Eltern gestern am sonntäglichen Mittagstisch gesprochen: »Den Friedrich kannst du aber nicht mehr herbringen, Wilhelm. Wie sieht das denn aus? Wohnt in der Stadtmühle – nachher schleppt der noch Krankheiten mit hierher! Und in der Schule ... schlechte Einflüsse ... müssen mit Rektor Kugler reden!« Johannes konnte es sich bestens vorstellen, ihr Flüstern und Tuscheln.
Dann vernahm er hinter sich ein scharrendes Geräusch und Schritte, feste, hallende Schritte von genagelten Lederschuhen. Dann hörte er wieder ein Scharren und aus den Augenwinkeln sah er, wie der Buckel-Gide nach rechts rutschte, um Platz zu machen.
Jetzt saß er also vorne bei den Armenhäuslern, der stolze Friedrich Weckerlin im Matrosenanzug! Ein leises Seufzen ging durch die Klasse. Die alte Ordnung war wiederhergestellt. Es war eben so: reich zu reich und arm zu arm und dazwischen gab es diese Schranke. Die unsichtbare, unverrückbare Schranke.
Prange begann monoton einen Text aus dem Lesebuch vorzulesen und die Klasse musste ihn wiederholen. Johannes hörte gar nicht hin, er bewegte nicht einmal die Lippen. Im Schutz der geduckten Köpfe schaute er vorsichtig nach rechts, auf die Nachbarbank. Der Buckel-Gide saß ganz am äußersten rechten Rand und war scheinbar in den Text vertieft. Daneben hockte Friedrich. Er hatte nicht einmal den Ranzen ausgepackt, der noch neben ihm stand, zwischen ihm und Buckel-Gide, als wolle er so eine Mauer errichten. Aber Prange hatte wohl beschlossen, ihn zu ignorieren.
Plötzlich wandte Friedrich den Kopf, als spürte er Johannes’ Blicke. Er war bleich, die zusammengepressten Lippen waren blutleer und in den Wimpern hingen Tränen, ein paar wenige von den vielen, die er wohl mühsam zurückhielt, hinunterschluckte, um keinem den Triumph zu gönnen, ihn weinen zu sehen.
Auf einmal lächelte Johannes. Es war ein scheues, vorsichtiges Lächeln, ein Angebot, das jederzeit zurückgenommen werden konnte. Und Johannes wartete, lächelte und wartete mit angehaltenem Atem. »An jenem Abend habe ich dir die Decke gebracht, um dich zu wärmen«, sollte es wohl heißen, »jetzt biete ich dir wieder etwas an, wenig genug in deiner Lage, aber es soll dich wie die Decke wärmen: ein Lächeln und meine Freundschaft!« Und die dunkelbraunen Augen von Friedrich Weckerlin hielten diesem Blick aus den merkwürdigen blauen Augen stand und in seine Mundwinkel stahl sich, ganz schwach nur, aber doch sichtbar, ein ebenfalls kleines, scheues und vorsichtiges Lächeln.
4
Anna schaltet in den zweiten Gang und drückt so fest auf das Gaspedal, dass der Motor aufheult und die Reifen im Schotter fast durchdrehen. Kleine Staubwolken wirbeln hinten auf. Wenn das mein Fahrlehrer gesehen hätte, denkt sie und muss dabei lächeln. Aber das ist auch wirklich eine teuflische Steigung. Außerdem tut ihr der Nacken weh
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