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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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sicher auch diese alte Frau eingeschlossen hat, die ihr jetzt so freundlich gegenübersitzt und für die ihr Besuch offensichtlich etwas ganz Besonderes ist.
    Gretl schaut sie eine Weile forschend an, als wolle sie ergründen, was in Annas Kopf vor sich geht, dann sagt sie: »Aber jetzt bist du ja da.«
    Anna scheint, als läge in dieser einfachen Feststellung auch eine Aufforderung: Jetzt ist sie da, aber warum? Was soll sie dieser alten Frau neben ihr auf dem Sofa sagen?
    Ich bin da, weil ich ganz allein bin! Ich habe nur die Toten, von denen ich fast nichts weiß. Ich will wenigstens die Erinnerung an sie haben, will ihre Geschichten wissen! Ich fühle mich wie ein loser Faden, ein winziges Teil, das darauf wartet, zu einem Ganzen geknüpft zu werden. Und ich möchte wissen, warum Mama nie mehr hierher wollte, ich will sie verstehen. Konnte sie das der alten Dame so einfach sagen?
    Sie beginnt zögernd vom Sterben ihrer Mutter zu erzählen, von den letzten Tagen, den Gefühlen des Verlorenseins nach ihrem Tod. Erzählt von den Fotoalben, den Bildern, ihren Fragen und erzählt von ihrer Sehnsucht dazuzugehören, auch wenn es sich nur noch um Namen und alte Geschichten handelt. Erleichtert sieht Anna, dass Gretl mehrere Male mit dem Kopf nickt. Sie hat wohl verstanden, denkt sie.
    Wie zur Bestätigung deutet Gretl auf eine alte Kommode, die unter dem Fenster steht, das zur Gartenseite hinausgeht. »Geh dahin und zieh die unterste Schublade auf. Da ist ein Kasten drin, den bringst du her und stellst ihn hier auf den Tisch.«
    Der »Kasten« entpuppt sich als eine schwere, sehr kunstvoll gearbeitete Schmuckkassette, die Anna vorsichtig vor der alten Gretl abstellt. Wie wunderschön sie aussieht!, denkt Anna bewundernd. Gretl wischt liebevoll mit der Hand über den Deckel: »Ja, da staunst du! Die hat er gemacht, dein Urgroßvater. Ein richtiger Künstler war er.«
    Ihre Stimme bricht und erschrocken sieht Anna, dass Tränen auf den runzligen, mit dicken Adern durchsetzten Handrücken tropfen. Es ist plötzlich sehr still, selbst der Wellensittich hat für einen Moment aufgehört zu kreischen, als sei er sich der Bedeutung des Augenblicks bewusst.
    Das hat also mein Urgroßvater gemacht, denkt Anna voller Staunen. Der »kindische Alte«. Das ist sozusagen sein Vermächtnis, dieser »Kasten«, wie ihn Gretl nennt, und die »Klitsche« oben am Waldrand.
    Ganz vorsichtig nimmt sie die Kassette in die Hände und betrachtet sie eingehend. Sie ist aus Silber, Deckel und Rand sind kunstvoll mit Emaillefarben ausgemalt, dunkelblau schimmern die Seitenwände, vor deren Hintergrund sich zierlich gearbeitete Silberfiguren abheben. Wirklich wunderschön ...
    Auf dem Deckel ist ein Bild, das in pastelligen Farben ausgeführt ist. Es zeigt im Vordergrund einen jungen Mann, der Geige spielt. Sein Gesicht neigt sich dem Instrument zu, als spüre er den Tönen nach, die von ihm kommen. Er ist altmodisch gekleidet mit einem blauen Gehrock und ein Tuch ist nachlässig um seinen Hals geschlungen. Braune Locken umgeben das Gesicht und er steht auf einer Blumenwiese mit weißen Margeriten. Am linken Bildrand ragen im Hintergrund mächtige schneebedeckte Berge in einen blauen Himmel und am rechten Bildrand scheinen diese Berge zurückzuweichen und den Blick freizugeben auf eine flache Seenlandschaft, die sich in der Ferne fast wie ein Traumbild verliert.
    Undeutlich regt sich eine Erinnerung in Anna, aber sie kann sie nicht genau zuordnen. Fragend schaut sie Gretl an, die auf den Kasten deutet. »Mach’s ruhig auf, es gehört ja dir. Da, links und rechts sind zwei Stifte, die musst du drücken, dann geht der Deckel auf.« Anna findet sie nicht gleich. »Nein, da an der Seite. So – und jetzt fest drücken. Siehst du ...«
    Tatsächlich springt der Deckel auf!
    Unwillkürlich hält Anna den Atem an, schaut hinein und ist im nächsten Augenblick ein bisschen enttäuscht. Aber was hat sie denn erwartet? Einen Schatz etwa? Goldmünzen und Geschmeide, Perlen, Diamanten ... das gibt’s ja nur im Märchen, denkt sie. Trotzdem, damit hat sie irgendwie nicht gerechnet.
    In der Kassette liegen ungefähr ein Dutzend schmale Hefte mit schwarzem Wachstuchdeckel, ein kleines Buch mit einem abgegriffenen, blauen Leineneinband und eine Mundharmonika, angerostet und abgegriffen, auf der noch der Schriftzug »Hohner« zu entziffern ist.
    »Da hat er oft drauf gespielt.« Gretl nimmt Anna das Instrument aus der Hand und betrachtet es nachdenklich. »Geigen

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