Beerensommer
und die Augen brennen.
Es ist keine Kleinigkeit für eine unerfahrene Autofahrerin wie sie von Berlin bis hierher gewesen, obwohl sie in der Nähe von Göttingen bei einer alten Studienfreundin ihrer Mutter übernachtet hat. Aber die Fahrt mit dem Auto ganz alleine, die ihr Mama wohl strikt untersagt hätte, ist eine Bewährungsprobe für die neue Verantwortung, die jetzt ganz allein auf ihr lastet.
Nur noch eine Kurve und das musste es jetzt sein! Die Straße hoch bis kurz vor den Waldrand und dann links abbiegen, hat ihr diese Frau geschrieben. Eine Reihe von kleinen Häuschen, Wand an Wand gebaut und fünf an der Zahl, ducken sich am steilen Berghang, als schämten sie sich für ihre Existenz vor der mächtigen Kulisse des dunkelgrünen Waldes, der sich bis in das helle Blau des Himmels hochzieht. Die Häuschen sind alle sauber verputzt, haben Blumenschmuck an den Fenstern und in den kleinen Vorgärtchen, von denen eine Treppe nach oben zur Haustür führt. Sieht alles ganz ordentlich aus, denkt Anna.
Sie richtet einen kritischen Blick auf ihr abgestelltes Auto, das verstaubt am Straßenrand steht. Es ist schmal und eng hier oben und sie überlegt, ob ein anderer Wagen genug Platz hat, um vorbeizukommen. Was für eine Aussicht von hier oben!, überkommt es sie. Herrlich! Man überblickt die zwei Täler, die unten im Dorf zusammentreffen. Alles ist überwölbt von den mächtigen Bergen, die sich in die Täler hineindrängen.
Anna mustert die vor ihr liegende Siedlung. Es sind meist schmale, kleine Häuschen, die wie Bauklötze nebeneinander stehen. Nur rechts, an einer breiteren Straße, die direkt auf den Waldrand zuläuft, stehen größere Wohnhäuser, die wohl jüngeren Datums sind. Protzige Schuppen mit Doppelgaragen und Balkonen im Tiroler Bauernstil. »Scheußlich«, flüstert sie und dreht den Kopf, um einen Blick auf das Urgroßvaterhäuschen werfen zu können. Es muss irgendwo dort oben liegen, direkt am Wald, so wie diese Gretl es beschrieben hat. Aber von hier aus kann man nichts erkennen, die großen Häuser haben sich stolz davorgeschoben.
Zögernd geht sie die Stufen hinauf und drückt auf den Klingelknopf neben der Haustür, die frisch gestrichen zu sein scheint, denn man kann die Farbe noch riechen. Es dauert einige endlose Minuten, dann wird die Tür einen Spaltbreit geöffnet und eine brüchige Stimme fragt: »Ja, wer ist da?«
Anna muss sich mehrmals räuspern, dann sagt sie leise: »Ich bin’s, Anna. Die Urenkelin von Johannes! Ich hab Ihnen geschrieben.«
Jetzt geht die Tür ganz auf und im Dunkel des schmalen Flurs kann sie eine kleine zierliche Frau erkennen, die etwas nach vorne gebeugt dasteht. Sie lässt einen raschen, flinken Blick über Anna gleiten und deutet dann mit einer Handbewegung in das Innere des Häuschens.
»Hab dich schon erwartet. Komm herein.« Dabei stößt sie eine zweite Tür auf, die den Flur von der eigentlichen Wohnung trennt, und schlurft in den angrenzenden Raum, der wohl das Wohnzimmer ist. Es ist überraschend hell und gemütlich. Ein großes Fenster und eine Balkontür führen nach hinten, in einen kleinen schmalen Garten, der allerdings nur aus einer Wiese und einem verkrüppelten Apfelbaum besteht. Ganz schön karg hier, denkt Anna und schaut sich neugierig um. Die Möbel sind alt und das Sofa schon recht zerschlissen, trotzdem strahlt der Raum eine heimelige Atmosphäre aus. Alles ist tadellos gepflegt, die Maserungen der Holzmöbel schimmern, in den Ecken stehen Grünpflanzen und neben dem Sofa befindet sich ein Käfig mit einem Wellensittich.
»Setz dich.« Auffordernd nickt die alte Dame ihr zu und deutet auf einen großen Ohrensessel, der neben dem Sofa steht. »Ja, dahin. Der ist gemütlich!« Ächzend lässt sie sich auf das alte Kanapee nieder, das bedenklich knarrt. Jetzt bemerkt Anna, was ihr zunächst gar nicht aufgefallen ist: Die Füße der Frau! Unförmig dick und geschwollen stecken sie in ausgetretenen Pantoffeln.
Die alte Dame muss Annas erschreckten Blick bemerkt haben, denn sie sagt unvermittelt: »Ja, ja, meine Füße, die sehen schlimm aus. Das kommt vom Herzen. Das will nicht mehr so recht. Der Doktor sagt, es sei Wasser. Deshalb fällt mir das Laufen immer schwerer. Dabei war ich früher so flink. Der Friedrich hat immer gesagt: ›Nun hock dich doch einmal hin, Gretl. Musst immer springen und laufen. Bist ja wie Quecksilber.‹ Aber ich hab’s nie ausgehalten.« Sie lächelt für einen Moment wehmütig und mit einem seltsamen
Weitere Kostenlose Bücher