Beethoven: Der einsame Revolutionär. (German Edition)
Friedrich Oeser, Direktor der Zeichenakademie, hatte sich zur Leitfigur einer neuen Generation von bildenden Künstlern, Komponisten und Schriftstellern entwickelt – unter ihnen Winckelmann und der junge Goethe –, die auf der Suche nach einem «Evangelium der Schönheit» war, nach neuen Maßstäben des guten Geschmacks und des Angenehmen. Es entstand eine Strömung, die gewöhnlich als deutscher Klassizismus bezeichnet wird. Ihr Ausgangspunkt war eine bestimmte Interpretation der Kunst der griechischen und römischen Antike, ausgedrückt in der bekannten Formel «edle Einfalt, stille Größe», eine neue Vorstellung von vollkommener Schönheit als Antwort auf die zentrale Frage nach dem Sinn und Zweck der modernen Kunst. Alle Adepten Oesers waren hiervon geprägt, auch Neefe berief sich zeitlebens auf seinen geistigen Mentor aus Leipzig. Es liegt also nahe, Beethovens frühe Empfänglichkeit für die Idee einer höheren, ja utopischen Mission des Künstlers aus den Leipziger Wurzeln seines Lehrers Neefe herzuleiten.
Vor allem aber war Leipzig die Stadt der Familie Bach. Natürlich hat Neefe den alten Johann Sebastian Bach nicht gekannt, und es ist fraglich, ob er dem Sohn Carl Philipp Emanuel je begegnet ist. Aber er kannte und schätzte die Musik beider Komponisten und hatte Carl Philipp Emanuel Bachs Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen – damals das meistvekaufte Standardwerk über Musik im Allgemeinen und das Klavierspiel im Besonderen – gründlich studiert.
Carl Philipp Emanuel Bach wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der «große Bach» genannt und war populärer als sein Vater. Seine Musik war modern, weil sie verschiedene Stile – den gelehrten, galanten und empfindsamen – auf einzigartige Weise miteinander verband, aber auch, weil sie mit ihren kurzen melodischen Wendungen, ihrem Helldunkel, ihren gewagten Harmonien und abrupten Stimmungswechseln auf eine höchst individuelle Weise expressiv war. Deshalb galt Carl Philipp Emanuel als «Originalgenie». Zeitgenossen berichteten von Augenblicken der Trance und des Bewusstseinsverlusts, von einem Einbruch des Unendlichen – man könnte auch sagen, des Irrationalen – in die Wirklichkeit, wenn sie ihn am Clavichord improvisieren hörten.
Obwohl Neefes Begabung und Fantasie nicht ausreichten, um selbst solch einfallsreiche Musik zu schreiben, hatte er sich Carl Philipp Emanuel Bachs ästhetische Ideen vollkommen zu eigen gemacht und orientierte sich als Lehrer an den im Versuch formulierten Grundsätzen. Das war von entscheidender Bedeutung für den jungen Beethoven, der so schon sehr früh mit der Vorstellung vertraut wurde, dass für den musikalischen Vortrag ein klar artikuliertes und ausdrucksvolles Spiel wesentlich sei, dass ein guter Musiker singend denken und sprechend singen müsse. Nicht zufällig passen die Eigenschaften, die später dem «Originalgenie» Beethoven zugeschrieben wurden, zu einer musikalischen Denkweise, die Beethoven über den Vermittler Neefe von Carl Philipp Emanuel Bach gelernt hat. Auch er galt als musikalisch polyglott, auch sein Spiel flirtete mit dem Irrationalen, auch seine Kompositionen hatten «bizarre», gewagte, unkonventionelle Züge. Kurz und gut: Dank Neefe war Beethoven von Anfang an der Überzeugung, dass gute Musik der unendliche Ausdruck des Hyperindividuellen sei.[ 24 ]
Beethoven ist dieser Auffassung immer treu geblieben. Sein Leben lang hat er Carl Philipp Emanuel Bachs Musik studiert. Er trug sein Exemplar des Versuchs immer mit sich herum und riet seinen Schülern, das Gleiche zu tun. So berichtete zum Beispiel der 1801 als Schüler angenommene Carl Czerny, Beethoven habe ihn gleich aufgefordert, den Versuch anzuschaffen und ihn zu jeder Stunde mitzubringen.[ 25 ]
Außer der Musik des «großen Bach» lernte Neefe in Leipzig selbstverständlich auch die des «alten Bach» kennen, die er aus wissenschaftlicher und didaktischer Sicht für sehr wertvoll hielt. Er war der Ansicht, jeder Musikschüler müsse Bachs Wohltemperiertes Klavier gründlich studieren. Auch Beethoven hat sich unter seiner Anleitung sehr früh damit auseinandergesetzt, und im März 1783 veröffentlichte Neefe in Cramers Magazin der Musik – einer in Hamburg erscheinenden Zeitschrift mit Berichten über das Musikleben in verschiedenen deutschen Städten – einen Artikel, in dem er behauptete, sein Schüler habe dieses «Magnum Opus» des Leipziger Meisters fast vollständig zu spielen
Weitere Kostenlose Bücher