Beethoven: Der einsame Revolutionär. (German Edition)
darf auch durchaus die Aufrichtigkeit der Hofopernsänger bezweifeln, die Beethoven auf seinem letzten Weg buchstäblich auf Händen trugen, obwohl sie schon lange keinen Ton des betrauerten Meisters mehr über ihre Lippen gebracht hatten. In Wien grassierte nämlich das Rossini-Fieber, man war im Bann seiner mitreißenden «Champagnermusik», Musik voller Bläschen. Beethoven und Rossini waren zweifellos musikalische Antipoden, die in unterschiedlichen Epochen lebten und für unterschiedliche Hörer schrieben. Bei ihrer einzigen Begegnung, im April 1822, war auch im übertragenen Sinne kaum eine Verständigung möglich.
Und wie steht es mit den acht Kapellmeistern – wir ersparen uns ihre Namen –, die Beethoven mit so viel vornehmem Anstand und vielleicht noch mehr Erleichterung zu seinem letzten Verbannungsort vor den Stadtmauern geleiteten? Nur der böhmische Komponist Johann Nepomuk Hummel war so talentiert, charismatisch und erfolgreich, dass seine Einstellung zu Beethoven vermutlich frei von Neid gewesen ist.
Trotzdem wollten ja nicht ohne Grund so viele Wiener mit großem Trara von diesem Menschen Abschied nehmen, mit dem sie eigentlich wenig anfangen konnten und den sie zuletzt vor allem als eine Art Original wahrgenommen hatten. Sie müssen gewusst haben, dass Beethovens Hauptwerke in den größten europäischen Städten gespielt wurden; die Missa solemnis war zuerst in Sankt Petersburg aufgeführt worden, die 9. Sinfonie bis 1827 schon in London, Frankfurt, Aachen, Leipzig und Berlin. Vielleicht kannten sie auch das Gerücht, Beethoven habe vor einigen Jahren einen interessanten Kompositionsauftrag aus Boston im fernen Amerika ignoriert. In einer Zeit, in der man ein außerordentlich feines Gespür für die kleinsten Verschiebungen in der sozialen Hierarchie hatte, dürfte es ihnen außerdem kaum entgangen sein, dass Beethoven als einfacher Bürger Zugang zu den höchsten Kreisen gefunden hatte. Die Liste der Kaiser und Könige, die seine Musik kannten und schätzten, bei ihm Kompositionen bestellt oder sogar selbst Werke von ihm gespielt hatten, war lang: Zar Alexander I., die preußischen Könige Friedrich Wilhelm II. und III., König Friedrich August I. von Sachsen, Jérôme Bonaparte, König von Westphalen, König Karl XIV. Johann von Schweden, ganz zu schweigen von den Habsburgern, allen voran Erzherzog Rudolph, der ein ausgezeichneter Pianist und bekannt für die besondere Qualität seiner Beethoven-Interpretationen war. Obwohl die Angehörigen des Hochadels ihre Führungsrolle auf dem Gebiet der Kultur im Lauf der letzten Jahrzehnte verloren und sich in selbstzufriedene Isolation zurückgezogen hatten, muss Beethovens Status als Ikone ihrer elitären kulturellen Identität die Durchschnittsbürger fasziniert haben.
Auch mich beeindruckt der schwindelerregende Ruhm, den Beethoven innerhalb weniger Jahrzehnte erwerben konnte. Heute sind steile Karrieren nichts Ungewöhnliches; ein Zeitungsverkäufer bringt es zum Medienmagnaten, ein in Armut aufgewachsener Außenseiter zum Staatspräsidenten. Im 18. Jahrhundert war dergleichen kaum denkbar, allein schon, weil die Kommunikation unendlich viel langsamer und die Gesellschaft vergleichsweise statisch war. Vor diesem Hintergrund bleibt die Geschichte vom Urenkel eines Bäckers aus der flämischen Provinzstadt Mecheln, der sich zu einem der berühmtesten Künstler der Musikmetropole Wien entwickelte und später eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der europäischen Kulturgeschichte wurde, ein Faszinosum.
Diese unwahrscheinliche Geschichte möchte ich hier erzählen. Ich möchte beschreiben, welchen Weg der kleine Junge aus Bonn zurückgelegt hat; wie er – und die Menschen in seiner Umgebung – bald seine besondere Begabung bemerkten: dem Klavier improvisierend einen ungeheuren Reichtum an Ideen zu entlocken; wieviel Mühe es den jungen Wiener Klaviervirtuosen kostete, diese musikalische Fantasie in geordnete Bahnen zu lenken; wie er wegen seines tragischen Gehörleidens die Virtuosenlaufbahn aufgeben musste und dann seiner Künstlerexistenz einen neuen und tieferen Sinn gab, indem er sich ganz aufs Komponieren konzentrierte; wie schließlich der «Tonkünstler» Beethoven – so wollte er am Ende seines Lebens gesehen werden – die Klangmaterie in solchem Grade zu beherrschen lernte, dass er sich wieder, und nun in völliger Freiheit und mit großem Selbstvertrauen, dem Fantasieren zuwenden konnte, obwohl oder vielleicht gerade weil er
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