Beethoven: Der einsame Revolutionär. (German Edition)
darum ging, selbst im Rampenlicht zu stehen. Er verteidigte sich mit dem Argument, er habe sich auf einzigartiges Quellenmaterial stützen können, das sich in seinem Besitz befand: die fast zweihundert «Konversationshefte», die er sich in Beethovens Wohnung angeeignet hatte und gern als seine «Zauberbücher» bezeichnete.[ 5 ] Seit 1818 hatte der fast vollständig ertaubte Komponist schriftlich kommunizieren müssen, zumindest in der Öffentlichkeit; begreiflicherweise wollte er aus Scham oder um der Diskretion willen gern vermeiden, dass Fremde hörten, was man ihm in die Ohren brüllte. Manchmal verwendete er eine Schiefertafel, meistens aber kleine Notizbücher, in die seine «Gesprächspartner», hin und wieder aber auch er selbst, Wörter, Sätze und Satzfragmente schrieben. Diese Hefte hat Beethoven aufbewahrt, wie seine Partituren und Skizzen. Es scheint fast, als habe er sich an Gegenstände aus seinem Leben geklammert, um einen Mangel an menschlichem Rückhalt zu kompensieren. Die Konversationshefte enthalten einen Schatz an Informationen, wenn sie auch meistens nur die Hälfte des «Gesprächs» wiedergeben; in manchen Fällen lässt sich nicht einmal erraten, was Beethoven selbst gesagt haben könnte. (Wenn überhaupt mit irgendetwas, so lassen sich diese Hefte mit Aufnahmen von Telefongesprächen vergleichen, auf denen nur die Äußerungen des einen Gesprächspartners festgehalten sind.)
Auf diese außergewöhnlichen Quellen konnte sich Schindler berufen. 1845 fügte er der zweiten Auflage seiner Biographie eine Beilage mit ausgewählten Zitaten aus den Heften hinzu, mit denen er zu zeigen hoffte, auf wie vertrautem Fuß er mit dem Meister gestanden – er verglich ihre Freundschaft sogar mit jener der mythischen Helden Orest und Pylades[ 6 ] – und auf welch hohem Niveau sich ihr geistiger Austausch bewegt hatte.
Schon sehr früh wurde freilich nachgewiesen, dass Schindler in seinem gut gemeinten Versuch, Beethovens Bild rein zu halten, viele Konversationshefte vernichtet und aus anderen ganze Seiten mit – seiner Ansicht nach – kompromittierenden Äußerungen entfernt hatte. Doch erst in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts fand man heraus, dass er ein noch schlimmeres Vandalismus-Delikt begangen hatte: das Einfügen fingierter Gespräche Beethovens mit ihm selbst. Damals machten Kriminologen der Humboldt-Universität Berlin eine der bedeutendsten Entdeckungen der Beethoven-Forschung. Mit Verfahren, die gewöhnlich dazu dienen, Bekennerschreiben von Terroristen oder Beschriftungen von Brief- oder Paketbomben zu untersuchen, konnten sie nicht nur nachweisen, dass etliche der Notizen später von Schindler hinzugefügt worden waren; durch eine Analyse der verwendeten Tinte gelang es ihnen sogar, diese Fälschungen auf die Jahre 1840 bis 1845 zu datieren. Untersuchungen der Handschrift des Betrügers ließen außerdem auf eine Veränderung seines Charakters schließen. War Schindler ursprünglich ein eher schüchterner und devoter Gesprächspartner, so hatte er ab etwa 1840 die Handschrift eines ängstlichen, nervösen, ja neurotischen Menschen, der sich in die Enge getrieben fühlt und deshalb die Wirklichkeit seinen Bedürfnissen anpasst.
Die Entlarvung hatte weitreichende Konsequenzen, stammten doch nicht wenige der Informationen, aus denen man anderthalb Jahrhunderte lang das Bild des Komponisten zusammengesetzt hatte, aus eben diesen gefälschten Fragmenten, waren also völlig wertlos. Und auch bestimmte, nie angezweifelte musikalische Theorien, auf die sich eine ganze Interpretationstradition gründete – man denke an die «zwei Prinzipe» in den Klaviersonaten in c-Moll op. 13 und E- und G-Dur op. 14, an anerkannte Grundsätze in Fragen des Tempos, des Rhythmus und des Metrums, an die Interpretation der Rezitative der 9. Sinfonie, an die Bedeutung des Mälzelschen Metronoms für die 8. Sinfonie –, erwiesen sich plötzlich als unhaltbar.
Noch deprimierender ist aber, dass auch all die Ereignisse, die Schindler in seiner Biographie wahrheitsgetreu dargestellt haben mag, in ein zweifelhaftes Licht geraten und zum Gegenstand einer fruchtlosen Debatte zwischen Gläubigen und Ungläubigen geworden sind. Der gewissenhafte Beethoven-Biograph wird hier oft – öfter jedenfalls, als ihm lieb sein kann – vor unmöglichen Entscheidungen stehen. Und manchmal ist trotz allem die Versuchung groß, auch erfundene oder ausgeschmückte Anekdoten zu erzählen, einfach weil sie zu schön sind,
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