Begegnung in Tiflis
lag?«
»Wir reden blödes Zeug, Väterchen.« Dimitri ballte die Fäuste. »Warum weinte Wanduscha? Hast du sie geärgert?«
»Es wird doch nötig sein, das Märchen zu erzählen«, sagte Kolka und zog an seiner Pfeife. »Aber unterbrich mich nicht, hörst du! Sitz still und hör zu. Zum Fragen ist nachher Zeit genug.«
Kolka Iwanowitsch Kabanow nahm die Tbilisi Prawda und drehte sie herum. Er wollte das Bild Bettinas nicht mehr sehen.
»Die Geschichte beginnt mit einem Nachmittag in Shitomir. Da rannte ein deutscher Feldwebel um sein Leben, aber die sowjetischen T 34 waren schneller, überholten ihn, ließen ihn leben, und man brachte den ausgepumpten, zitternden, um sein Leben nicht eine Kopeke gebenden Menschen in ein Gefangenenlager. Schwer verwundet war er, der deutsche Feldwebel. Drei Schüsse staken in seinem Rücken, und zwei sowjetische Ärztinnen operierten ihn, retteten ihm das Leben … aber das wußte er nicht. Vier Wochen lag er bewußtlos und phantasierend in einer Ecke der Sammelbaracke, und jeder, der ihn sah, mußte annehmen, daß er nur noch wenige Stunden zu leben hatte.
Aber er lebte weiter. Er wurde gesund, er kam nach Perwo-Uralsk und von dort nach Nowosibirsk und ganz zuletzt nach Grosnyi, am Osthang des Kaukasus, wo er an der Ölleitung arbeitete, die von Machatsch-Kala am Kaspischen Meer bis nach Tuapse am Schwarzen Meer führt. Er war ein armer Mensch, dieser deutsche Feldwebel. Vier Jahre schrieb er seine monatlichen Plenny-Karten nach Deutschland, denn dort hatte er eine liebe, fleißige Frau und zwei süße Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Aber nie kam Antwort. Während die anderen die Rückantwortkarten lasen, Pakete empfingen, Fotos an die Bettpfosten und in die Spinde nagelten und mit offenen Augen von der Heimat träumen durften, saß der arme, kleine Mensch mit seinem narbigen Rücken auf der Pritsche und wartete und wartete. Schließlich kam ein Brief. Zwei Jahre war er alt; wo er solange gelegen hatte, wer wußte es, wer fragt danach? Post von einem entlassenen Kameraden war's, und der Freund schrieb, daß das Haus in Göttingen durch Bomben vernichtet sei und die Frau und die beiden Kinder unter den Trümmern begraben wurden. Nun war der arme, kleine Mensch allein, ganz allein. Er hatte keine Heimat mehr, kein Haus, keine Frau, keine Kinder, seine besten Jahre lagen auf den Schlachtfeldern Rußlands. Es war nichts mehr da, was ihn nach Deutschland zog, nach der Heimat, die ihm alles genommen hatte. Und er sagte sich, daß es besser sei, alles zu vergessen.
Eines Tages kamen Kommissare ins Lager und sprachen mit den Spezialisten. Ich war ein Spezialist geworden …«
»Du, Väterchen?« schrie Dimitri auf. Kolka hob beide Hände.
»Keine Fragen! Hör dir das Märchen an! Sagen wir also: Der Heimatlose hörte sich alles an, und dann sagte er ja zu dem Vorschlag, in Rußland zu bleiben, einen russischen Namen anzunehmen und sich als freier Mensch zu bewegen. Es war so einfach. Ein halbes Jahr Schulungen, Eintritt in die Kommunistische Partei, ein Schwur, ein guter Sowjetbürger zu sein … und dann kam der Tag, an dem der deutsche Feldwebel Karl Wolter durch das Lagertor ging, einen Lastwagen bestieg und nach Tiflis gefahren wurde. Als er wieder aus dem Wagen auf die Erde kletterte, war er ein anderer Mensch. Er hatte einen Paß in der Tasche und hieß Kolka Iwanowitsch Kabanow …«
»O Gott, o mein Gott«, stöhnte Dimitri. Er warf die Hände flach vors Gesicht und lehnte den Kopf weit zurück.
»Nur drei Monate war Kolka in Tiflis, da sah er im Bazar eine schöne Frau. Sein Herz machte einen Sprung. Diese schwarzen Locken, diese glutvollen Augen, dieser wohlgeformte Körper – ein Fest fürs Auge war's. Kolka sprach sie an, und sie sagte zu ihm als Antwort: ›Gehen Sie weiter, Genosse! Es ist mir unangenehm, mich mit einem ungebildeten Burschen wie Sie Seite an Seite zu sehen.‹ Ja, so war sie … so lernte Kolka die schöne Galina Konstantinowa Sotowskij kennen. Deine Mutter.«
»Hör auf, Väterchen!« rief Dimitri, die Hände noch immer vor den Augen. »Hör auf. Du hast versprochen, aufzuhören, wenn das Märchen schrecklich wird.«
»Einen schönen, klugen, lieben, guterzogenen Sohn hatte Galina«, fuhr Kolka Iwanowitsch unbeirrt fort. »Er schloß Freundschaft mit dem Onkel Kolka, und nach zwei Monaten sagte er schon Väterchen, obwohl Galina und Kolka noch gar nicht verheiratet waren. Aber sie taten es dann, sie waren glücklich, und eine zweite Welt
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