Begegnung in Tiflis
flog zurück, so wie es eine Wölfin tut, wenn sie im Winter ihren Hunger gegen den Himmel klagt.
Und Kolka Iwanowitsch ließ die Zeitung fallen, breitete die Arme aus und sagte mit zitternder Stimme: »Komm her, Töchterchen!«
Und er sagte es in deutscher Sprache, als habe er nie anders gesprochen.
»Komm her, meine kleine Bettina.«
»Ich … ich heiße Wanda …«, stammelte Bettina und lehnte sich an den Türpfosten. »Wanda Fjodorowa …«
Kolka Iwanowitsch Kabanow schüttelte den Kopf. »Warum spielen wir Versteck?« sagte er, und er sprach weiter deutsch, was Bettina maßlos entsetzte. »Ich weiß, daß du Bettina bist. Eigentlich habe ich es gleich gefühlt … hier drinnen …«, er tippte auf seine Brust und lächelte gütig, wie ein Vater, der große Freude an seinen Kindern hat. »Als Dimitri dich mitbrachte, als ich dich ansah – so zerrissen und müde und elend warst du –, da fühlte ich etwas anderes im Herzen, als man es sonst spürt, wenn man einem fremden Menschen begegnet. Bettina …«
Kolka Iwanowitsch kam noch einen Schritt näher. Bettina hob die Einkaufstasche höher. Es sah aus, als wolle sie damit auf den Alten einschlagen.
»Wer sind Sie?« fragte Bettina. »Warum sprechen Sie jetzt deutsch? Was … was wollen Sie von mir?« Und plötzlich ließ sie die Tasche und das Netz fallen, vor die Füße Kolkas, der noch einen Schritt näher kam. »Lassen Sie mich gehen!« sagte sie hart. »Grüßen Sie Dimitri von mir. Es … es war eine schöne Zeit bei Ihnen …«
»Bleib!« sagte der alte Kolka. In seinen Augen lag eine strahlende Freude. Er sah Bettina an, als sei sie gerade geboren, und er, der Vater, hebe sie empor und wäre glücklich über ihren ersten Laut. »Wir können nicht vor unserem Schicksal davonrennen.«
»Das sagte der Inder auch …«, stammelte Bettina.
»Welcher Inder?«
»Es war nur ein Gedanke, Kolka Iwanowitsch. Ich bin so verwirrt.« Bettina hatte ihren ersten Schrecken überwunden. Zu lächeln versuchte sie sogar, und es gelang ihr mühsam. »Das Bild in der Zeitung … es sieht mir ähnlich, gewiß … aber gibt es das nicht, daß sich zwei Menschen sehr ähnlich sehen? Schon auf dem Markt habe ich die Zeitung bemerkt … das Bild … aber ich habe nicht erwartet, daß Sie so reagieren, Väterchen …« Sie senkte den Kopf und strich ihr neues Kleid glatt. Es war, als wische sie damit das Glück von sich herunter, in Dimitris und Kolkas Haus zu sein. »Nun werde ich weiterziehen, Väterchen. Onkel Wanja wartet.«
»Du hast keinen Onkel Wanja«, sagte Kolka laut.
»Doch! Ich habe ihn!« schrie Bettina zurück. »Und ich gehe jetzt zu ihm!«
»Dein Onkel heißt Ludwig … Ludwig Gilles … und er wohnt in Flensburg …«, sagte Kolka ruhig.
»Nein!« Ein Aufschrei war's, ein greller Schrei, der im ganzen Hause widerhallte. Auf der oberen Treppe klappte eine Tür. Dort wohnte der grusinische Maler Arkadij Lukanowitsch Bederian, ein wüster Mensch, der soff und wahllos liebte, dekadente Bilder malte, nach Ansicht der Kulturvorsitzenden des Rates sowjetischer Künstler, und der sich vom Verkauf gezeichneter Postkarten ernährte, die er am Flugplatz und am Hauptbahnhof den Reisenden anbot. Unter der Hand flüsterte man allerdings, daß er auch Fotos verkaufte, nackte, herrliche kaukasische Mädchen, bei deren Anblick einem rechten Mann das Wasser im Munde zusammenläuft … aber wie gesagt, man munkelte es bloß. Auf jeden Fall galt Arkadij Lukanowitsch als ein großes Schweinchen, aber er lebte mit sich und der Welt zufrieden dahin.
»Was ist das da unten?« schrie Arkadij Lukanowitsch die Treppe hinunter. »Warum quietscht das süße Vögelchen? Juckt es dem Alten in den Fingern, was? Eine schöne Wirtschaft ist das, der Teufel soll's holen!«
»Komm herein und schließ die Tür«, sagte Kolka. »Arkadij ist wieder besoffen. Er braucht nicht zu hören, was wir miteinander zu reden haben. Komm herein, meine kleine Bettina.«
Die Stimme Kolkas war wie ein Magnet. Bettina trat vollends ins Zimmer und schloß hinter sich die Tür. Hinter ihrer zuckenden Stirn arbeiteten die Gedanken.
Ludwig Gilles … woher weiß er, daß mein Onkel Ludwig Gilles heißt und in Flensburg wohnt? Er ist der Bruder von Mutti. Amtmann in der Stadtverwaltung. Wer … wer ist dieser Kolka Iwanowitsch Kabanow …
»Soll ich dir noch mehr sagen, Betti?« fragte der alte Kolka. Ganz nahe standen sie nun beieinander, sahen sich an, und in Bettina verschwand die Angst und die Panik,
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