Begehrter Feind
der neben ihr auf seinem grauen Streitross saß, eine Fackel in der Hand, drehte sich zu ihr. Sein langer Umhang raschelte. »Welcher Laden?«
»Der mit der eingeschlagenen Tür, Mylord.«
Stirnrunzelnd betrachtete de Lanceau ihre ehemalige Schneiderei. Selbst im schwachen Dämmerlicht wirkte alles furchtbar heruntergekommen, so wie die Holzwände ergraut waren und abbröckelten. Und mit der eingerammten Tür schien alles … verlassen.
Nein, niemals verlassen! Nicht nur könnte Ryle immer noch drinnen sein, sondern vor allem steckten dort zu viele Erinnerungen, die wie Spinnweben an den Wänden klebten und in den Schatten verborgen blieben.
De Lanceau hob seine Fackel in die Höhe und brachte sein Pferd zum Stehen. Die Waffenknechte hielten ihre Pferde ebenfalls an, und es wurde sehr still auf der Straße. Einzig das Geräusch, wenn die Tiere gelegentlich mit ihren Schwänzen um sich schlugen, durchbrach das unheimliche Schweigen.
Mit einer Hand auf seinem Schwert stieg de Lanceau aus dem Sattel und gab seinen Waffenknechten ein Zeichen, es ihm gleichzutun. Gisela verdrängte ihre furchtbare Angst, kletterte von ihrem Pferd und eilte zu ihm.
De Lanceaus Schwert zischte aus der Scheide. Es war eine sehr eindrucksvolle Waffe, deren Metall im Fackelschein aufblitzte. Einige seiner Leute zogen gleichfalls ihre Schwerter. Die Übrigen standen mit strengen Mienen um ihren Herren geschart.
De Lanceau sah Gisela an. »Du bleibst hier, Gisela!«
O Gott, nein! Sie konnte ihr Gewissen nicht damit belasten, dass die Männer womöglich dort drinnen umkamen. »Mylord, was ist, wenn Ryle noch da ist? Was ist, wenn …«
»Er wird nichts gegen meine Männer ausrichten können.« Mit einem strengen Kopfnicken befahl er seinen Kriegern, sich zu beiden Seiten der Tür zu postieren.
Mit erhobenen Waffen stießen andere die Tür weiter auf. Sie flog nach innen und landete mit einem lauten Krachen an der Wand.
Dann hörte Gisela, wie schwere Stiefel über die Dielen donnerten. Fackelschein spiegelte sich an den Wänden, und Rufe hallten nach draußen. Als Nächstes wurde die Tür zu ihrem Wohnraum aufgestoßen. Noch mehr Rufe erklangen.
Einen Moment später kam de Lanceau zu ihr zurück. »Komm herein!«
Sie musste seinem Befehl gehorchen. Dennoch wurde ihr bei seinem strengen Ton die Brust schmerzlich eng. Sie krallte die schwitzenden Hände in ihre Röcke, als sie ihm nach drinnen folgte. Die Vertrautheit des Ladeninneren schien sie geradezu zu verhöhnen. Ihr Arbeitstisch war noch genau so, wie sie ihn verlassen hatte: Die Fäden, die Kerzen und die Nähwerkzeuge lagen darauf verstreut.
Sie trat vorsichtig über die Schwelle zu ihrem Wohnraum. Die Waffenknechte, die an ihrem Tisch standen, schienen sämtliche Atemluft in dem Raum zu verbrauchen. Als sie sich umsah, entfuhr ihr ein stimmloser Schrei.
Die Strohbetten, in denen Ewan und sie geschlafen hatten, waren von Messern zerschlitzt worden. Überall lagen Strohklumpen herum, die bei der Verwüstung herausgerissen worden sein mussten. Die Bank neben dem Tisch war in Stücke zerschlagen, und tiefe Schnitte zeichneten die Tischplatte wie Krallenrisse eines bösen Drachen.
Gisela hob unweigerlich eine Hand an ihren Hals, als sie in den Küchenbereich ging. Hier lagen überall Tonscherben am Boden, und den Spuren an den Wänden nach zu urteilen, hatte Ryle die meisten ihrer Schalen und Schüsseln dagegengeschleudert.
Er hatte ihr Heim zerstört, sein Zeichen auf allem hinterlassen, was für ihr unabhängiges Leben stand.
Der Schmerz fuhr ihr geradewegs in die versehrte Brust. Ängstlich drückte sie ihre Hand auf die alte Wunde und zitterte am ganzen Leib.
»Hat Ryle das gemacht?«, fragte de Lanceau hinter ihr und klang dabei höchst angewidert.
Sie nickte.
»Der Mann ist sehr reizbar, wie es scheint.«
Gisela wollte heulen, bremste sich aber gerade noch. Was Ryle ihr angetan hatte, war jenseits dessen, was ihr hemmungsloses Schluchzen oder offene Verzweiflung einbringen könnten. Beides würde ihrem Gegenüber nicht einmal eine Vorstellung davon vermitteln, was sie hinter sich hatte. Jedenfalls verdiente Ryle keinerlei Achtung, welcher Gestalt auch immer.
Sie hasste ihn für das, was er dieser Behausung angetan hatte, bei der sie sich alle Mühe gegeben hatte, sie zu einem Heim für Ewan und sich zu machen.
Sie hasste, hasste,
hasste
ihn dafür!
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie drehte sich um und sah de Lanceau, der sie sorgenvoll betrachtete.
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