Hab und Gier (German Edition)
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Das Gabelfrühstück
Vor etwa zwanzig Jahren erhielt ich gelegentlich eine Einladung zum Sonntagsbrunch, doch dann kamen Mittagstermine aus der Mode. Die Gastgeber wurden es leid, weil einige der Besucher bis zum Abend blieben und man mehr als eine Mahlzeit auftischen musste. Daher war ich völlig überrascht, als ich kürzlich die handgeschriebene Karte eines ehemaligen Kollegen im Briefkasten fand: Wolfram Kempner, von dem ich schon lange nichts mehr gehört hatte – und der nun offenbar auch aus der Bibliothek ausgeschieden war –, bat an einem bevorstehenden Feiertag zu einem Gabelfrühstück. Ganz der alte Bücherwurm!, dachte ich. Wer außer ihm kannte heute schon noch dieses altmodische, seltsame Wort für einen Imbiss!
Noch zwei Wochen hatte ich Zeit, um eventuell abzusagen, meine Gefühle schwankten zwischen Neugier und Unlust. Vorsichtshalber wollte ich mir vor einer Zusage eine gewisse Grabinschrift noch einmal anschauen. Gedankenverloren wanderte ich über den Weinheimer Friedhof. Ich war einige Monate nicht mehr dort gewesen, obwohl sich die Gräber meiner Verwandten hier befanden. Frühling lag in der Luft, es war ein milder Tag, Vögel zwitscherten munter, frisch aufgeworfene Erde glänzte in der Sonne, die Blumengebinde erfroren nicht mehr über Nacht, sondern hielten sich fast so gut wie in der Vase. Am Tag zuvor hatte es geregnet, auf den glitschigen Nebenwegen musste ich mich in Acht nehmen, um nicht auszurutschen. Erstaunt bemerkte ich, dass sich die kleinen Putten aus wetterfestem Steinguss wundersam vermehrt hatten. Manche Gräber wiesen bis zu acht Engel auf, einige eine Madonna. Die meisten Himmelsboten waren relativ neu und blendend weiß, die paar älteren aus Keramik wiesen Sprünge auf, setzten Moos an, ergrauten, passten sich dem Erdreich an und wurden irgendwann zu Staub. Immer wieder wunderte ich mich, dass die Verstorbenen persönlich angesprochen wurden: Ruhe sanft! Wir werden dich nie vergessen! Du fehlst mir! Selbst die Schleife auf einem verwelkten Kranz war bedruckt: Ewig Deine Sieglinde. Ob man davon ausging, dass die Verstorbenen die Botschaften mit Genugtuung zur Kenntnis nahmen? Auch in Todesanzeigen hatte ich schon ähnliche Anreden gefunden und mir ausgemalt, wie man sich im Jenseits gegenseitig die Zeitung vorlas. Während ich mich noch bei dieser Vorstellung amüsierte, entdeckte ich sie wieder, diese eigenartige und nicht eben freundliche Inschrift auf einer grauen Granitplatte: Bleib, wo du bist!
War es ein Versehen, sollte es eigentlich heißen: Bleib, wie du bist! , und der Spruch sollte der Toten die allmähliche Verwesung untersagen? Ich studierte erneut Vor- und Nachnamen – kein Zweifel: Hier ruhte wirklich die Ehefrau jenes Kollegen, der mir vor wenigen Tagen die bewusste Karte geschickt hatte. Bernadette Kempner war vor einem halben Jahr gestorben, so dass die Einladung zum Gabelfrühstück nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Bestattung stehen konnte. Man konnte nicht von einem allzu frühen Ableben sprechen, denn sie war, wie ich mich auf dem Grabstein vergewisserte, mit 73 gestorben, war also etwa sechs Jahre älter als ihr Mann. Nur sehr selten hatte Wolfram seine Frau erwähnt, überhaupt war er ein stiller, zurückhaltender Mitarbeiter unserer Stadtbücherei gewesen, der lieber im Hintergrund Büroarbeiten erledigte, als sich im Publikumsverkehr zu engagieren. Zwar war er der einzige Mann unseres Teams gewesen, sozusagen der Hahn im Korb, hatte aber nie den Gockel gespielt, galt eher als Neutrum oder – um im Bild zu bleiben – als Kapaun. Ich hatte ihn auch deshalb etwas aus den Augen verloren, weil ich vorzeitig die Rente beantragt hatte und vor drei Jahren mit sechzig aus der Bibliothek ausgeschieden war. Den Kampf mit unbekannten audiovisuellen Medien und immer neuer Software hatte ich längst aufgegeben. Ein einziges Mal schüttete ich ihm mein Herz aus, wie viel angenehmer und menschlicher es doch früher zugegangen war, als es noch in erster Linie um die Ausleihe und Verwaltung von Büchern ging. Er nickte zwar teilnahmsvoll, schien sich aber im Gegensatz zu mir mit der modernen Technik überhaupt nicht schwerzutun, denn er war ein ebenso leidenschaftlicher Bastler wie Bücherwurm. Immerhin meinte er, dass er meinen mutigen Entschluss bewundere. Er müsse leider noch bis zu seinem 65. Lebensjahr durchhalten, wenn nichts Unerwartetes geschehe.
Waren es finanzielle Gründe? Oder fiel ihm zu Hause die Decke auf den Kopf? Da er den
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