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Beginenfeuer

Beginenfeuer

Titel: Beginenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Christen
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und von der Hetzpropaganda beeinflusst, die le terrible so geschickt in Umlauf gebracht hatte, begannen Fragen zu stellen. Es kam ihnen zunehmend unwahrscheinlicher vor, dass die Vorwürfe der Verleugnung Christi und der Unsittlichkeit im Orden auf Wahrheit beruhten.
    Über den Dächern der Brückenhäuser zogen die gewaltigen Ecktürme der neuen Kathedrale Simons Blick auf sich. Wie ein Ruf klangen die Schläge der schweren Bronzeglocke über den Fluss, die soeben die elfte Stunde des Tages verkündete. Ein böiger Wind kräuselte das Wasser und trieb bauschige Wolken über die Stadt nach Westen, den Fluss hinab. Seine Füße setzten sich von selbst in Bewegung. Er stand bereits auf der Brücke, als ihm klar wurde, welchen Weg er einschlug.
    Die Cité war das Gebiet des Königs! Auf der Cité lebte Mathieu. Er hatte ihm gesagt, dass er dort ein Haus gemietet hatte, weil er nicht im Palast eine Kammer mit anderen teilen wollte. War es ratsam, eine Begegnung mit seinem Bruder zu riskieren? Sicher nicht. Es würde zu Fragen führen, die besser ungestellt blieben.
    Es schmerzte, die Richtung zu ändern und dem Fluss den Rücken zu kehren. Mit merklich schwerfälligerem Schritt verließ er den Pont au Change und kehrte zum Bischofssitz zurück.
    Der Klang der übrigen Glocken von Paris war jenem von Notre-Dame gefolgt, aber Simon hörte sie nicht. Seine Gedanken waren von Erinnerungen gefesselt. Eine betrübte Stimme hallte in seinen Kopf nach. »Vergesst mich!« Er konnte es nicht. Hatte sie ihn bereits vergessen?

E LFTES K APITEL
    Masken
     
     
     
    D ER FALSCHE J ÜNGLING
    Paris, Saint Mathurin, 11. April 1310
     
    Ysée wusste nicht, was ihre neuen Freunde für den heutigen Tag geplant hatten. Sie hatte lediglich zugesagt, zur vereinbarten Zeit auf dem Vorplatz von Notre-Dame zu erscheinen, und sich wieder heimlich aus dem Haus geschlichen. Nun, nachdem sie den Plan kannte, fragte sie sich, ob es nicht sträflicher Leichtsinn sein würde, in dieser Verkleidung zu einem Kirchentribunal zu gehen.
    Der ahnungslose Renard wollte keine Ausrede gelten lassen. »Es macht mir Angst«, flüsterte Ysée. »Unsinn, Kleiner. Wovor solltest du dich fürchten?«
    »Sie könnten herausfinden, dass ich gar kein richtiger Student der Leges bin.«
    »Alle Studenten in Paris unterstehen allein dem Rektor der Universität. Er steht ihnen vor, ist ihr Gerichtsherr und oberster Verwalter. Nur er richtet über die Verfehlungen eines Scholaren. Weder Kirche noch Krone haben darauf Einfluss. Du musst in unserem Schutz keine Angst vor den Garden des Herrn Bischof, den Männern des Königs oder der Miliz des Stadtmagistrats haben. Zudem, wir studieren die Rechte, es ist unsere Pflicht, die wichtigen Prozesse in Paris zu verfolgen. Seit das Konzil von Toulouse im Jahre 1229 das Instrument der Inquisition eingeführt hat, sieht die Kirche jeden Angriff auf ihre Lehre auch als Angriff auf die staatliche Ordnung. Im Zweifelsfall opfert man eher einen Unschuldigen, als diese Ordnung zu gefährden. Man wird uns also nicht behelligen.« Renard bereitete es Vergnügen, seinen wissbegierigen Freund zu belehren. Er ließ Ysée nicht zu Wort kommen. »Die bevorstehende Verhandlung ist sogar für dich interessant, denn sie muss sich der Sprache des Volkes bedienen, weil die Angeklagte das Lateinische nur unvollkommen beherrscht.«
    »Es ist eine Frau?«
    »Vielleicht hast du schon von ihr gehört.« Jeannot verdrehte frech die Augen und faltete die Hände weit vor sich, als wäre ihm ein mächtiger Busen im Wege. »Eine Abtrünnige.«
    »Wie heißt diese Frau? Wieso sollte ich sie kennen?«
    »Marguerite Porète. Eine Begine. Sie weigert sich seit über einem Jahr, ihre ketzerischen Thesen zu widerrufen. Heute soll das Urteil der einundzwanzig Theologen verkündet werden, die sich mit ihrem Buch befasst haben. Sie werden es für ein liberum pestiferum, continentem heresim et errores halten, darauf gehe ich jede Wette ein.«
    Ysée war vor Schreck ganz blass geworden. Sie fragte lieber nicht, was die lateinischen Worte bedeuten sollten. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder gefangen hatte. »Wird sie verurteilt, weil sie geschrieben hat, weil sie eine Begine ist oder weil sie eine Frau ist?«, erkundigte sie sich, sobald sie ihrer Stimme wieder traute, besonders herausfordernd.
    Ihre Aufzählung rief verblüfftes Schweigen hervor. Dann redeten alle gleichzeitig. »Noch ist sie nicht verurteilt.«
    »Sie ist dem Gesetz unterworfen, gleich welchen

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