Beginenfeuer
Lederwams, der ihn führte, beleuchtete feuchte Steinquader. Die Stufen nahmen kein Ende. Kälte, Nässe und der stechende Gestank von Exkrementen machten jeden Atemzug zur Überwindung. Je tiefer sie stiegen, umso stiller wurde es. Simon hatte das Gefühl, er betrete eine Gruft. Die Gefangenen, die sich hier unten befanden, waren fast schon zu Tode gequält. Hier vegetierte ein großer Teil der verhafteten Tempelritter. Sie waren gebrochen an Leib und Seele und warteten nur noch auf ihre Erlösung.
In den oberen Zellen waren ihm die Schreie durch Mark und Bein gegangen, hier unten verengte sich sein Brustkorb unter der Grabesstille. Die schlurfenden Schritte seines Begleiters hielten inne. Mit Flusswasser vermischter Schlamm durchweichte seine Sandalen.
Der Wärter stellte die Laterne ab und schob den kratzenden Riegel einer Bohlentür zurück, deren Eisenbeschläge beim Öffnen quietschten. Simon trat zurück, doch er ermahnte sich. Er gab dem Kerkermeister ein Zeichen, ihm zu leuchten, bückte sich und trat nach einem tiefen Atemzug in das Verlies hinter der Tür.
Selbst als seine Augen Einzelheiten erkennen konnten, fiel es ihm schwer, die Umrisse des gequälten Menschen auszumachen, der hier in Dunkelheit und Dreck lag. Ein leises Klirren von Ketten und rasselnde Atemzüge verrieten ihm, dass das erbärmliche Bündel vor seinen Füßen noch lebte. Angekettet existierte die Gefangene ausschließlich von Wasser und halb verschimmeltem Brot. Sie konnte mit keinem Menschen sprechen, und die Stunden und Tage flossen wie ein endloser Strom der Kälte und Dunkelheit an ihr vorüber. Nur wenige überlebten hier längere Zeit. Die meisten wurden wahnsinnig, bevor sie starben.
»Der Herr sei mit dir, Schwester«, sagte er mechanisch. Im Lichtschein konnte er erkennen, dass sie die Augen öffnete. Es war jedoch kein Ausdruck in ihrem Blick. Sie starrte an ihm vorbei ins Leere.
Simon kniete sich, ohne auf seine Kutte zu achten, neben ihr zu Boden.
»Die heilige Mutter Kirche in ihrer unendlichen Güte gibt dir Gelegenheit, deine Sünden zu bereuen, Marguerite.« Hatte sie ihn gehört? Sie rührte sich nicht. Es musste doch eine Möglichkeit geben, sie vor noch Schlimmerem zu bewahren.
Inständig flehte er sie an. »Bitte gestehe, dass du dich gegen die Kirche versündigt hast. Gott wird dennoch nicht aus deinem Herzen weichen und dich als sein Kind aufnehmen.« Neuerliches Kettenklirren verriet, dass die Gefangene sich aufzurichten versuchte. Er konnte ihr Gesicht erkennen. Ihre Lippen waren aufgerissen und blutig, ihre Nase zertrümmert. »Wessen habe ich mich schuldig gemacht?«, stammelte sie mit gebrochener Stimme.
»Du weißt, was die Kirche dir vorwirft. Wenn du nicht für dich bereust, so denke an deine Mitschwestern«, appellierte er mit aller Leidenschaft an ihre Einsicht. »Du schadest dem Ruf aller Beginen. Im ganzen Königreich werden sie für deine Verfehlungen mitbüßen müssen.«
Er sah ihr die Anstrengung an, mit der sie die knochigen Finger zitternd zum Gebet faltete.
»Was mit uns allen geschieht, ist Gottes Wille«, war alles, was sie sagte.
Die stille Ergebenheit und Würde dieser Feststellung entwaffnete Simon. Wie überzeugend musste sie im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen sein. »Du wirst sterben.«
Für einen Augenblick sahen sie sich in die Augen. Sie schien in die Tiefen seiner Seele zu blicken.
Wie unter einem Zwang legte er seine Hand auf den knochigen Kopf mit den wirren Haarsträhnen und gab ihr einen stummen Segen, bevor er sie verließ.
Wie sollte er Bericht erstatten in Avignon, wenn sich alles in ihm gegen die unmenschliche Behandlung aufbäumte, die der Beklagten zuteil wurde? Woher nahm die Kirche sich das Recht, Leben zu nehmen, das Gott gegeben hatte? Wie rechtfertigte sie diese Folter?
Simon ließ das Châtelet hinter sich. Wer in seinen Kerkern saß, ob Templer oder Begine, hatte den Tod vor Augen. Er wagte erst sich umzusehen, als er die Seinekais erreicht hatte.
Über dem ganzen Viertel lag der scharfe Geruch aus Metzgerläden, Schlachthäusern und Gerberwerkstätten. Geruch nach Leben, dachte er, doch das Gewimmel der Menschen, Fuhrwerke und Tiere zwischen den beiden Häuserreihen der Brücke beunruhigte ihn.
Gerüchte besagten, dass sich bereits fast tausend Tempelritter in Paris befanden, um für ihre fünfhundert gefolterten und eingekerkerten Brüder zu sprechen. Zwei Verteidiger für jeden. Aufruhr lag in der Luft.
Die Pariser, bislang aufsehen ihres Königs
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