Beginenfeuer
Kopf ein, aber ihre Fäuste ballten sich vor Zorn. Ihr ganzes Herz schlug Schwester Marguerite entgegen, die reglos auf dem Boden lag. Wie gerne hätte sie ihr geholfen. Sie verteidigt. Besaß denn keiner von all diesen Kirchenmännern die Vernunft zu erkennen, dass sie in ihrer Schrift nicht zur Sünde, sondern zur Liebe aufrief?
Die fünfzehn Sätze aus dem Spiegel der einfachen Seelen, die von den einundzwanzig Theologen im Chorgestühl als ketzerische Thesen eingestuft wurden, wurden von den Beobachtern mit leisem Gemurmel zur Kenntnis genommen. Was war verdammenswert an diesen Aussagen?
Tugend, ich nehme Abschied von Euch!
Die liebende Seele gewährt der Natur alles, wessen sie bedarf, ohne Gewissenszweifel.
Die Seele will keinerlei Hilfe oder Schonung, weder von Gottes Macht noch von seiner Weisheit und Güte. Das Buch bestand nicht nur aus diesen Sätzen. Die Theologen hatten sie aus einem logischen Zusammenhang gerissen. Warum unterschlug der Großinquisitor wichtige Verknüpfungen?
»Sie reißen alles aus der Gedankenfolge«, raunte sie Renard empört zu. »Wie können sie das tun?«
»Schsch«, mahnte er und drehte besorgt den Kopf. »Achte darauf, was du sagst. Bei solchen Ereignissen sind immer Mönche oder Priester unterwegs, die sich im Volk umhören. Wenn du die Partei der Porète ergreifst, kannst du schnell Ärger bekommen.«
Ysée presste die Lippen aufeinander und konzentrierte sich wieder auf die Anklage.
»Es geht nicht an, dass eine Begine, als wäre sie von Geistesverwirrung getrieben, über die Heilige Dreifaltigkeit und die göttliche Wesenheit diskutiert und sich verbreiten will.« Die Vorwürfe des Großinquisitors hallten vom Tonnengewölbe des Kirchendaches wider.
»Dennoch hat die apostolische Kirche in ihrer unendlichen Güte sich die Mühe gemacht, diese unselige Schrift von den klügsten Theologen der Universität prüfen zu lassen. Ihr Urteil ist einstimmig: Häresie! Nimm Abstand von diesen Thesen, Marguerite, oder deine Seele wird zum Höllenfeuer verdammt sein!«
Die Menge im Kirchenschiff duckte sich raunend unter der donnernden Forderung. »Widerrufe!«
»Sorge dich nicht um meine Seele, Bruder. Gott ist in mir.« Marguerite Porète klang leise, aber völlig klar. Jedermann hielt den Atem an, um zu verstehen, was sie sagte. »Gott gibt meiner Seele alles, wessen sie bedarf. Ich mag töricht gewesen sein, als ich dieses Buch schrieb. Ich handelte wie einer, der das Meer in sein Auge einschließen und die Weltkugel auf der Spitze eines Binsenrohres tragen wollte. Und doch war ich nicht mehr als das Sprachrohr meines Herrn, in dessen Liebe ich geborgen bin.«
Die sanfte Antwort rief einen wahren Tumult hervor. Ysée hatte sich, wie von einem Sog getrieben, nach vorne gedrängt. Es gelang ihr gerade noch, die Kappe festzuhalten, die ihr über die Augen rutschte.
Als sie wieder sehen konnte, lag Schwester Marguerite nur wenige Schritte vor ihr auf den Steinquadern. Eine Greisin in Lumpen, den Schorf vernarbter Foltermale an Handgelenken und Beinen. Mehr Wrack als Mensch. Dennoch umgab sie eine starke Aura von Seelenruhe und Harmonie. Ysée starrte sie fassungslos an.
Marguerite Porète hob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. In Marguerites Gesichtszügen waren Schmerz, Hunger und Müdigkeit zu erkennen, in ihren Augen jedoch lag überirdische Ruhe.
Völlig in den Bann der Begine gezogen, nahm Ysée nicht wahr, dass einer der Mönche im Gefolge des Großinquisitors nach vorne trat und sie näher ins Auge fasste. Im Schatten der Kapuze verschwanden seine Züge, aber seine gefalteten Hände verkrampften sich.
Sie hielt den Blickkontakt mit Marguerite Porète, bis der Großinquisitor sie als rückfällige Ketzerin brandmarkte und sein endgültiges Urteil fällte. »Ins Feuer mit der Begine!«
Der wütende Spruch fand sein Echo unter der aufgepeitschten Menge. Frauen weinten, Männer brüllten. »Begine ins Feuer!«
»Werft die Begine ins Feuer!«
»Lasst die Begine brennen!«
Die Verurteilte wurde von den Männern der bischöflichen Garde gepackt und davongeschleppt.
Ysée streckte die Hand nach ihr aus. Eine Geste, die im Getümmel unterging und nur von der Verurteilten und dem beobachtenden Mönch bemerkt wurde. »Yvo, so komm schon!«
Renard entdeckte seinen Schützling und drängte ihn zum Ausgang. Er zerrte sie gewaltsam durch die Menge, die nach Ende des Spektakels hinausdrängte. Es hatte zu regnen begonnen. Ein heftiger Guss, der jeden Umhang und jedes
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