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Behalt das Leben lieb

Behalt das Leben lieb

Titel: Behalt das Leben lieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaap Ter Haar
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Wil, noch immer hell und freundlich, noch immer ganz natürlich: »Berend, hier sind deine Eltern.«
    Jetzt war es an Beer, tief Luft zu holen. Er streckte seine Hand nach rechts aus, doch Mutter schien schon um das Bett herumgegangen zu sein. Von links kam ein Kuss auf seine Wange. Und ihre Stimme, heiser und nervös: »Ach Junge, mein Junge . . .«
    Es war Vater, der seine Hand nahm. Sie standen also zu beiden Seiten des Bettes. »So, Beer. Da sind wir wieder. Gott sei Dank, dass du jetzt wieder bei Bewusstsein bist, die letzten Male warst du noch vollkommen benebelt!«
    »Ja«, nickte Beer; er fragte sich, wie er anfangen sollte.
    »Wie fühlst du dich jetzt, mein Lieber?« Es war zu hören, dass Mutters Stimme so normal wie möglich klingen sollte. Sie klang so unnormal wie die Pest.
    »Die Schmerzen sind nicht mehr so schlimm.«
    »Ist die Schwester nett?«
    »Ja«, sagte Beer und dann durchschlug er den Knoten mit einem einzigen Hieb, weil er diesen Tanz um die unabwendbare Wahrheit einfach abscheulich fand: »Ihr wisst doch, dass ich blind bin? Für immer?«
    Ein lautes Schlucken. Er fühlte, wie Mutters Hand sein Handgelenk umklammerte, als könnte sie da einen Halt finden.
    »Ja, Beer, wir wussten es«, sagte Vater. »Wir wussten nur nicht, dass du es schon weißt. Wir wollten es dir erst sagen, wenn du ein bisschen zu Kräften gekommen sein würdest.« »Mein Junge . . .«, fing Mutter an, doch dann hörte sie auf. Vater sprach ihren Satz zu Ende: »Wir haben etwas zu tragen bekommen, alle miteinander. Es bleibt nichts anderes übrig, als tüchtig zuzupacken.
    »Miteinander?«
    »Ja, natürlich. Du, Mutter und ich!«
    Da kamen Beer die Tränen und er war dankbar, dass er jetzt einen Verband um die Augen hatte. Er biss sich auf die Lippen und sagte leise, weil er seiner Stimme nicht sicher war: »Ist das nicht komisch? Heute früh hatte ich keine Angst davor, blind zu sein, aber ich hatte Angst, dass ihr . . .«
    »Ja . . .?«
    »Dass ihr euch trennen könntet.«
    Das waren Worte so schwer wie Blei. Einen Augenblick lang schien es, als blieben sie wie ein lebensgroßer Vorwurf über dem Bett hängen.
    »O Gott«, flüsterte Mutter. »Mein Junge.«
    Beer wusste genau, dass sie jetzt zu Vater hinsah. Nun durfte Mutter nicht anfangen zu weinen und Vater sich keine faulen Ausreden ausdenken, um einer Antwort auf diese wichtige Frage auszuweichen. Es war Vater, der sich auf den Bettrand setzte und das Schweigen brach: »Beer, jede Ehe hängt mal eine Zeit lang an einem seidenen Faden. Auch die Ehe von Mutter und mir, das hast du ja schon mitgekriegt. Aber Gott sei Dank sind die meisten seidenen Fäden ziemlich haltbar.«
    Das war eine ehrliche Antwort, die genügend Hoffnung für die Zukunft ließ, und damit schien alles gesagt.
    »Wollt ihr mir jetzt erzählen, was mit mir passiert ist?«, fragte Beer. In seiner Erinnerung gab es noch viele weiße Flecke.
    Jetzt war es Mutter, die ihm gegenüber mit gewohnter, ruhiger Stimme antwortete. Und so erfuhr Beer, dass er nach der Schule, ohne nach links und rechts zu sehen, vom Bürgersteig auf die Straße gerannt war, um einen Ball zu kriegen; er war gestolpert und in die spitzen Zinken einer Mistgabel gefallen, mit der ein Gärtner auf einem Mofa vorbeifuhr; der Gärtner hatte nicht mehr ausweichen können.
    »Der Gärtner konnte nichts dafür«, setzte Vater hinzu. »Er war schon zweimal bei uns, um zu fragen, wie es dir geht. Ein sehr netter Mann.«
    Die Bewusstlosigkeit nach dem Unfall. Der Transport ins Krankenhaus. Auf der Trage in dieKlinik. Das endlose, quälende Warten der Eltern auf die Auskunft des Arztes. »Dann kamst du ziemlich bald zu Bewusstsein.«
    »Ja, das weiß ich noch.«
    Beer erinnerte sich dunkel des kurzen Augenblicks, der von der Angst erfüllt war, sterben zu müssen. Gleich darauf war er wieder bewusstlos geworden.
    Mutter erzählte kurz von der Operation und den Fieberanfällen, die der Operation folgten. In ein paar Minuten war der entfallene Zeitraum von zwei Tagen und drei Nächten durch Worte überbrückt.
    Glücklicherweise kam dann Schwester Wil und sagte, der Besuch hätte nun lange genug gedauert. Beer fühlte sich todmüde und das Dröhnen und der Schmerz in seinem Kopf waren beinahe nicht mehr auszuhalten. Kaum hatten Vater und Mutter sich verabschiedet, da wurde Beer von einem Weinkrampf geschüttelt. Die Spannungen und Aufregungen, die er in so kurzer Zeit hatte verarbeiten müssen, waren ein bisschen zu viel für ihn

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