Behalt das Leben lieb
möglichen Bilder.«
Und das war die Wahrheit. In Gedanken sah er das Krankenhaus vor sich. Auch Schwester Wil sah er. Sie ganz deutlich. Und auch den Arzt, der jeden Morgen Visite machte und gewiss graues Haar hatte und eine Brille trug.
Es war ein Glück, dachte Beer, dass er nicht blind geboren worden war, denn dann wären die Bilder unter dem Verband viel undeutlicher.
An einem Nachmittag war der Gärtner zu Besuch gekommen. Er hatte eine kleine Schale mit Hyazinthen gebracht. »Ein Stückchen Frühling, das du riechen kannst. Dann vergisst du die Krankenhausluft hier ein bisschen.«
Obwohl Beer dem Gärtner noch nie begegnet war, sah er ihn doch deutlich vor sich: einen ruhigen Mann mit schwieligen Händen. Und mit Fingern, die keine Briefmarke fassen konnten, weil sie von der Arbeit spröde und steif geworden waren.
Sie sprachen gleich von dem Unfall. »Ich finde es verdammt scheußlich!«
»Sie können nichts dafür«, sagte Beer schnell. »Ich hab mich schon zehnmal gefragt, warum ich plötzlich ohne nach links oder rechts zu gucken auf die Straße gerannt bin.«
»Frag nie nach dem Warum, Berend. Da kriegst du dein Leben lang keine Antwort drauf. In einem der Gärten, in denen ich arbeite, stehen zwei dicke Eichen. Die nenn ich siamesische Zwillinge, weil der unterste Zweig des einen Baumes – ein Ding so dick wie mein Bein – gleichzeitig der unterste Zweig der anderen Eiche ist. Warum? Die Dingegeschehen eben, Berend. Das lernt man in einem Garten. Und dadurch, dass du tüchtig drin arbeitest, verhinderst du, dass alles verkommt.«
Beer hatte auch die zwei ineinandergewachsenen Eichen klar vor sich gesehen. Und später, als er nach der Besuchszeit wieder allein war, hatte er – genau wie auf der Kinoleinwand – den Gärtner bei den Eichen arbeiten sehen: jäten, Zweige stutzen, mit dem gelassenen Gang eines Gärtners eine Schubkarre schieben; mit den Sträuchern und Stauden beschäftigt, die er hinter einem Teich gepflanzt hatte.
Fantasie? Für Beer war es ein Erlebnis. Denn: Wenn man blind war, brauchte die Welt deshalb nicht kleiner zu werden. In Gedanken konnte man sie so groß, so schön oder so hässlich machen, wie man wollte.
Nach einer Woche, als die Schmerzen fast ganz verschwunden waren, musste Beer in einen Krankensaal umziehen. Diese Nachricht erschreckte ihn. Er fühlte sich noch lange nicht in der Lage, fremden Menschen blind unter die Augen zu treten. Und schlimmer noch: Dort würde er Schwester Wil nicht mehr sehen. Sehen . . .? Nun ja, dann eben – um sich haben.
»Ich besuch dich dort, verlass dich drauf«, versprach Schwester Wil, als sie ihn für den Transport nach Saal 3 auf die Trage gehoben hatte. Sie fuhr ihn aus dem Zimmer. Die Räder quietschen immer noch. Den Korridor entlang, in den Fahrstuhl,nach unten. Wieder einen Korridor entlang und um eine Ecke. Dann hielten sie an. Eine Tür wurde geöffnet und ein Wirrwarr von Männerstimmen und Gelächter schlug ihm entgegen. Als er durch die Tür in den Saal geschoben wurde, brach der Lärm plötzlich ab.
»Himmel!« In der plötzlichen Stille empfand Beer seine Blindheit aufs Neue doppelt schwer. Ängstlich, unsicher rollte er auf der Trage durch Saal 3 auf sein neues Bett zu. Wie viele Männer lagen im Saal? Sahen sie jetzt alle zu ihm hin?
»Jesusmaria«, flüsterte eine Stimme in der Ecke.
Die Stille wurde danach fast noch erdrückender.
»Beer, ich heb dich jetzt ins Bett. Leg deinen Arm ruhig um meinen Hals.«
Schwester Wils helle Stimme erfüllte die Leere. Er wurde hochgehoben und sank in das Bett.
Dann hörte er, wie seine Siebensachen auf den Nachttisch gestellt wurden. Die Schale mit Hyazinthen. Der Korb mit Obst von seiner Klasse.
»Ach, wie dumm. Ich hab deinen Transistor vergessen!« Beer hatte das Radio von Vater und Mutter bekommen, komplett mit Kopfhörer. Ohne die anderen zu stören, konnte er auf diese Weise Hörspiele und Musik hören.
»Ich hol ihn gleich«, sagte Schwester Wil. Und fort war sie. Beer fühlte sich auf der Stelle ängstlich und einsam. Wo war er jetzt? Wer lag neben ihm? Und dann hörte er ganz nahe eine Stimme: rau, aber mit dem Singsang, wie er in Rotterdam zu hören ist.
»Hallo, ich bin Gerrit, dein Nachbar. Ich sitz hier mit zwei kaputten Hinterpfoten, weil mich ’ne Ankerkette erwischt hat. Neben mir liegt Onkel Ab, der den ganzen Tag dasitzt und über seinen Blinddarm quatscht. Deshalb bin ich heilfroh, dass ich dich jetzt neben mir hab.«
Beer sah nicht, dass sich
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