Behalt das Leben lieb
Plänen, die er für sein weiteres Leben hegte. Dienst für behinderte Kinder. Und vor allem: den gequälten Kindern als Psychologe auf dem Weg in ein menschenwürdiges Dasein helfen. Das war sein Ziel. Und wer ein klares Ziel im Leben hatte, der konnte nicht unglücklich sein.
Draußen hupte es. Onkel Willem war da. Beer zog seinen Pullover zurecht. Es war ein verschossenes, braun-violettes Ding, aber er war daran gewöhnt. Trotz Mutters Bitten hatte er seinenschönen Anzug im Schrank hängen lassen. Er wollte in der Blindenanstalt so erscheinen, wie er wirklich war.
Erst später war ihm bewusst geworden, dass es ja egal war: Keines der Kinder dort würde seine Kleider sehen können.
»Willem ist da!«, rief Vater von unten.
»Ich komme«, antwortete Mutter aus dem Schlafzimmer.
Beer spürte plötzlich im Bauch ein heftiges Ziehen. Dann ging er. Er hatte das Gefühl, dass er wieder einen Abschnitt in seinem Leben abgeschlossen hatte. Als er das Krankenhaus verlassen hatte, war seine Jugend zu Ende gewesen. Und jetzt? Jetzt stand er schon wieder vor einem neuen Anfang.
»So, dann werde ich dich jetzt mal auf dein Zimmer bringen und dich den anderen aus dem Haus vorstellen, soweit sie da sind.« Der Direktor war aufgestanden. Das konnte Beer daran erkennen, dass der Stuhl fortgerückt worden war.
»Sollen wir uns dann hier verabschieden?«, fragte Beer und für einen Moment schien es, als habe er einen Frosch im Hals. Je eher Vater und Mutter gingen, desto besser. Solch einen Abschied durfte man nicht in die Länge ziehen. Das hatte überhaupt keinen Sinn.
»Tschüss, Beerlimann«, sagte Vater. Ein Kosename von ganz früher und seit Jahr und Tag nicht mehr gebraucht. Nun bekräftigte er die enge Verbundenheitzwischen ihnen, genau wie der freundschaftliche Schlag auf die Schulter und der Kuss auf die Wange.
»Tschüss, mein Liebling. Bis Sonnabend.« Die letzten Worte sollten zeigen, dass es ein Abschied für nur kurze Zeit war. Doch auch Mutter hatte einen Frosch im Hals. Sie musste jetzt schnell gehen, dachte sie. Denn ob sie so ruhig und gelassen bleiben könnte, das wusste sie nicht.
Der Direktor hielt die Tür auf.
»Sie brauchen uns nicht hinauszubegleiten. Wir kennen den Weg«, sagte Vater.
»Und vielen Dank für alle Ihre Hilfe und Fürsorge!« Mutters Stimme klang glücklicherweise schon wieder etwas fester. In Gedanken sah Beer seine Eltern über den Spielplatz gehen und Vaters Arm lag nun fest und sicher um Mutters Schulter.
Der Direktor war wieder ins Zimmer gekommen und kramte in den Papieren auf seinem Schreibtisch. Ein netter Kerl, dachte Beer. Vor allem wegen seiner ruhigen, sachlichen Art, in der er das Gespräch geführt und den Abschied arrangiert hatte. Kein Drama. Das traurigste Kind der Welt war er noch lange nicht.
»Wollen wir dann mal?«
»Wo ist mein Koffer?«
»Den hab ich hier. So, dann mal los. Halt dich einfach an meiner Schulter fest.«
Sie gingen einen Korridor entlang und verließen das Haus. Beer hörte in der Ferne hohe, aufgeregte Kinderstimmen. Hatte der Kindergarten Schluss?
Der Direktor blieb stehen. »Entschuldige, ich hab was vergessen. Warte einen Moment hier, ja? Ich bin sofort zurück.«
Da stand Beer nun allein auf dem Spielplatz der Blindenanstalt. Er lauschte den jauchzenden Kinderstimmen. Sie klangen genauso wie im Park: »Mein Vater hat ein Segelboot gekauft!«, hörte er.
»Und mein Vater hat einen Wohnwagen. Das ist viel besser. Damit kann man überall hin!«
»Mit einem Segelboot auch!«
»Ja, aber das kann kentern!«
»Mit einem Wohnwagen kannst du dich totfahren!«
Es war, als stünden da Gijs und Jan, der König. Beer lächelte in sich hinein und dachte, dass zwischen sehenden und blinden Kindern wohl kein allzu großer Unterschied besteht. Wahrscheinlich genauso viel Freude und genauso viel Kummer. Genauso viel Prahlerei, genauso viel Fantasie und genauso viel Angst.
»Hallo, bist du neu hier?« Eine helle Mädchenstimme vor ihm. Er hatte sie nicht kommen hören.
»Ja, ich bin gerade angekommen. Ich heiße Beer Ligthart.«
»Ich heiße Tinka.« Das klang, als schlüge die Uhr des Studenten. »Neben mir steht Molly, eine aus dem Kindergarten. Ich bin in der Realschule.«
»Hast du geweint?«, fragte Molly.
»Nein«, sagte Beer.
»Ich ja. Ich hab entsetzlich geweint.«
Beer wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Ein Krümel von fünf Jahren. War er nicht bevorzugt, weil er erst jetzt hierherkam?
»Woher wusstest du, dass
Weitere Kostenlose Bücher