Behalt das Leben lieb
wieder.
Berend erwachte an diesem dritten Morgen, als hätte man ihn aus dem Traum eines beinahe bodenlosen Schlafes geweckt. Und langsam drang in sein Bewusstsein, dass er wach war. Er hatte schrecklichen Durst. Und der Schmerz kehrte zurück, doch nicht mehr so peinigend wie zuvor. Schmerz . . .? Träge stellten schattenhafte Erinnerungen sich ein: Mutters sanfte Stimme, Vaters Hand und die undeutlichen Bilder, die sich wie im Dämmerlicht auf dem Bildschirm seines Traums bewegt hatten.
Schritte näherten sich. Sie klangen nackt und hohl auf dem harten Linoleum. Jemand zog die Vorhänge auf. Das war an dem metallischen Geräusch zu hören. Da stimmte was nicht, dachte Berend. Das Zimmer blieb dunkel.
»Mutter, bist du es?«
Mutter musste diese fremden Geräusche doch erklären können, den Schmerz und die Übelkeit erregende Luft.
»Wo bin ich?«
Eine kühle Hand ergriff seinen Arm.
»Du bist im Krankenhaus, Berend. Ich bin die Krankenschwester, Schwester Wil.«
Krankenhaus? Schwester Wil? Beer begriff nicht. Krampfhaft suchte er nach einem Anhaltspunkt. Ja, die Schule war zu Ende gewesen. Bennie hatte auf die Französischarbeit geschimpft und Goof hatte mit diesem kaputten Ball zum Schreien komisch à la Cruyff gespielt und dann diesen schrägen Schuss abgefeuert. Und dann . . .? War er dann nicht auf die Straße gerannt, um den Ball zu erwischen? Und über Goofs Tasche gestolpert . . .? Die Bilder wollten noch nicht klarer werden.
»Was ist passiert?«
»Du hattest einen Unfall, als die Schule aus war.«
»Einen Unfall?«
War er angefahren worden? Dann musste er ganz schön verletzt sein. Zögernd bewegte Berend seine Beine, dann seine Arme. Gott sei Dank, das tat nicht weh. Die waren noch heil.
»Deine Eltern werden bald hier sein. Die wissen, was sich abgespielt hat. Ich bin nicht dabei gewesen, verstehst du?« Beer fühlte wieder den Verband um seinen Kopf. Natürlich! Deswegen konnte er nichts sehen. Er drückte seine Hände auf den Bauch, die Schenkel, die Brust. Da schien alles vollkommen in Ordnung zu sein.
»Willst du was trinken?«
»Gerne, Schwester!«
Die Stimme der Schwester klang hell, freundlich und bestimmt. Die wusste, was sie tat. Beer wollte sich aufrichten, doch plötzlich pochte der Schmerz wieder in seinen Augen und erfüllte seinen ganzen Kopf.
»Bleib ruhig liegen. Ich geb dir eine Schnabeltasse.«
Ein Schnabel wie von einer Teekanne wurde zwischen seine trockenen Lippen geschoben. Lauwarmer Tee. Er trank ein paar Schlucke. Wie gut das seinem Mund tat!
»Vielen Dank«, sagte er aus tiefstem Herzen und versuchte mit neuer Kraft, seine Gedanken zu ordnen.
»Ich muss jetzt gleich weg«, sagte die Schwester. »Versuch, noch ein bisschen zu schlafen.«
Das Rascheln der Schürze. Geklirr von einem Schüsselchen. Schritte zur Tür. Beer blieb allein zurück, von vagen, unbestimmten Geräuschen des Krankenhauses umgeben. Welches Krankenhaus war das? Und wie lange würde er hierbleiben müssen?
»Dumm, das hätte ich fragen sollen«, murmelte er. Er wollte auch wissen, wann sie ihn von diesem dicken, drückend heißen Verband befreien würden, denn die andauernde Dunkelheit gefiel ihm gar nicht. Außerdem hätte er diese Schwester Wil ganz gerne einmal gesehen. Sie hatte bestimmt blondes Haar, blaue Augen und einen festen Busen unter ihrer weißen Schürze. Das hörte man schon an ihrer Stimme.
Berend lag jetzt ganz still. Er versuchte sich vorzustellen, was nach der Schule passiert war.
Goof hatte dem Ball einen Stoß versetzt . . . Ja, gleich darauf musste das Unglück passiert sein. Hatte ihn ein Auto erwischt? Dann hab ich Glück gehabt, dachte Beer, denn an seinem Körper war noch alles ganz. War er nicht vielleicht mit dem Kopf durch die Windschutzscheibe geflogen? Hatte er deshalb den Verband um den Kopf? Und dann durchzuckte ihn plötzlich ein schrecklicher Gedanke, der aller Unsicherheit und allem Zweifel ein Ende setzte.
Es gibt Dinge, die Kinder manchmal ganz plötzlich mit großer Bestimmtheit wissen; Gedanken, die aus dem Nichts auftauchen und deren Richtigkeit mit absoluter Gewissheit gefühlt wird. Wenn sie auch keinen einzigen Beweis liefern können, so erkennen sie doch die Wahrheit – mit einer Art Hellsichtigkeit, die den meisten Erwachsenen verloren gegangen ist.
Solch ein Moment der Sicherheit, solch einAugenblick der Wahrheit war für Berend Ligthart gekommen. Er erinnerte sich auf einmal, dass er in seinen Schmerzen und Traumbildern etwas gerufen
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