Behandlungsfehler
der Patient
wieder geschnauft habe. »Als wir den wieder reanimiert hatten, da war alles andere gar nicht mehr so wichtig.«
Das ging gar nicht! Nicht alles, was medizinisch möglich und machbar ist, wirkt sich für den Patienten auch gut aus. Die Art, wie dieser Chefarzt argumentierte, war für mich völlig inakzeptabel. So sah ich mich veranlasst mich äußert unjuristisch zu äußern: »Herr Chefarzt, könnten Sie sich vielleicht auch mal Gedanken darüber machen, was diese unglaubliche Freude, die Sie empfanden, als Herr Werner wieder geschnauft hat, im Ergebnis für diesen Menschen heißt? Vielleicht wäre es ihm viel lieber gewesen, dass Sie ihn nicht wieder zum Schnaufen gebracht hätten, statt so vor sich hinzuvegetieren?« Ich hätte mir von diesem Arzt einen Blick über seinen Tellerrand sehr gewünscht und, dass er sagt: »Ich war in diesem Moment sehr glücklich darüber, dass wir ihn wieder zum Schnaufen gebracht haben, aber ich bin mir nicht sicher, ob der Erfolg der Reanimation von Herrn Werner selbst und von seiner Familie genauso empfunden wird.«
Ein guter Arzt betreibt eine individuelle Medizin und prüft stets, ob seine geplante und durchgeführte Maßnahme dem Wunsch des Patienten gerecht wird. Natürlich reagiert der Arzt im Notfall und mag medizinisch auch alles richtig machen. Einen Totkranken wiederzubeleben mag für ihn ein Erfolg sein. Aber zumindest im Nachhinein muss er sein Handeln auch kritisch hinterfragen.
Mein Unverständnis hatte nichts mit der juristischen Situation zu tun. Es kam aus meinem Bauch. Aber das Arzthaftungsrecht tangiert den Bauch der Betroffenen. Denn keine Versicherung, kein Arzt, kein Gericht, kann den Schaden, den der Patient erlitten hat, ungeschehen machen. Mit diesem muss der Patient leben, unter Umständen – wie in diesem Fall – sein ganzes Leben lang.
Das Schadens- und Schmerzensgeld wiegt diese Tatsache nicht auf. Bei den Patienten, die zu mir kommen, ist nichts mehr so, wie es vorher war. Es ist alles verändert. Und im Allgemeinen nicht zum Guten.
Das Gerichtsverfahren nahm eine für uns alle eine überraschende Wendung. Der Gutachter hatte etwas entdeckt, was wir alle übersehen hatten: Nämlich dass Herr Werner, während er wiederbelebt wurde, Medikamente bekommen hatte, die in dieser Situation kontraindiziert waren, also nicht gegeben werden durften. Der Sachverständige befand, das sei ein grober Behandlungsfehler. Nun war es Aufgabe der Gegenseite zu beweisen, dass die Gabe dieser Medikamente keinen Einfluss auf den Zustand von Herrn Werner gehabt hatte. Allein auf dieser Grundlage konnten wir uns mit der gegnerischen Partei einigen. Wir schlossen einen Vergleich.
Als das Protokoll des Gerichts bei uns einging, war es auf den Tag genau neun Jahre her, dass Frau Werner zu mir gekommen war. Neun Jahre habe ich Familie Werner begleitet, ich habe die Kinder kennengelernt und die Enkelkinder aufwachsen sehen und viele, viele Gespräche geführt. Schön war, dass Frau Werner nie das Vertrauen verloren hat, das Vertrauen in die Gerechtigkeit. Nie war sie betrübt. Sie hat ihr Schicksal ohne zu murren und es zu hinterfragen bis heute ertragen. Ab jetzt wird es zumindest finanziell für sie etwas leichter.
Gerade bei solchen Verfahren geht es schnell um relativ viel Geld. Das liegt in der Natur der Sache. Man muss berücksichtigen: Herr Werner war, als er in das Wachkoma fiel, 60 Jahre alt. Seine statistische Lebenserwartung beträgt 79 Jahre. Er wird also ungefähr 19 Jahre seines Lebens im Pflegeheim verbringen, das kostet pro Monat etwa 2500 Euro. Im Jahr sind das 30 000 Euro – diese Summe mal 19 ergibt rund 570 000 Euro, wovon die Familie Werner ihren Anteil zu tragen hat.
Dazu kommen das Schmerzensgeld und die Hilfsmittel, der persönliche Mehraufwand und der Schaden, der entsteht, weil Herr Werner nicht mehr arbeiten und sich auch nicht mehr an den Arbeiten im Haushalt beteiligen kann. Wir nennen das den Haushaltsführungsschaden. Die Sozialversicherungsträger und ebenso die Kranken- und Rentenkassen melden natürlich auch ihre Ansprüche an.
Oft bitte ich die Sozialversicherungsträger, erst einmal die Füße stillzuhalten. Wenn das Verfahren schließlich abgeschlossen ist, stelle ich ihnen alle Unterlagen zur Verfügung – nur die Summen nenne ich im Allgemeinen nicht. Die Ansprüche der Krankenkassen machen es mir oft schwer, die Ansprüche meiner Mandanten durchzusetzen. Denn die Haftpflichtversicherungen der Gegner erklären
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