Behandlungsfehler
und sehr viel Vertrauen gegenübertraten. Zum ersten Mal erlebte ich die andere Seite der Medizin: die der Patienten und deren Angehörigen. Ich erfuhr viel von ihren Ängsten, Sorgen und Nöten, von ihrer falschen Ehrfurcht vor den Göttern in Weiß. Ich erlebte, wie verzweifelt sie waren, wenn eine hoffnungsvoll begonnene Therapie oder eine Operation fehlgeschlagen schienen. Sie fühlten sich häufig allein gelassen, keiner redete mit ihnen oder sprach ihnen Mut zu.
Die Ärzte gingen in die Zimmer, ohne vorher anzuklopfen, die Schwestern sprachen von dem »Patienten in Nummer 9«, anstatt sich wenigstens den Namen zu merken. Die hierarchischen Strukturen des Krankenhauses waren überall ersichtlich. Die Ärzte bildeten kein Team mit den Patienten, um gemeinsam den Weg der Genesung zu gehen. Stattdessen stand häufig David vor Goliath. Ich lernte damals, wie sehr rechtliche Fragen das Umfeld von Patienten bestimmen.
Der Sohn einer älteren Dame zum Beispiel wollte wissen, wie es seiner Mutter ging. Die Ärzte hatten die Aussage verweigert. Er möge sich doch bitte an seine Mutter wenden. Doch die war kaum ansprechbar und bekam wenig mit von dem, was um sie herum geschah. Der Mann erzählte, er würde seit Jahren alles für seine Mutter erledigen. Auch in der Notaufnahme habe er die Verträge und Dokumente für sie unterschrieben. Niemand habe sich daran gestört. Aber jetzt, wo es für ihn wichtig sei, versteckte sich der Arzt hinter seiner Schweigepflicht. Der Mann fühlte sich ausgegrenzt und elend. Seine Mutter mochte er damit nicht belasten.
Wie ich darüber dachte? Ich fand: Wenn der Arzt sich rechtlich unsicher war, so hätte er auch im Beisein mit der Mutter und dem Sohn sprechen können. Er hätte die Mutter fragen können, ob sie einverstanden sei, wenn er mit ihrem Sohn redete. Es gibt wirklich viele Möglichkeiten, um der Sache im Sinne der Menschlichkeit gerecht werden zu können, die schlechteste ist es aber, sich hinter der ärztlichen Schweigepflicht zu verstecken.
Ein anderer Patient kam auf mich zu und fragte, was ich von Sterbehilfe hielte. Seine Frau lebte seit einem Zwischenfall während einer Anästhesie in einem Pflegeheim. Sie bekäme gar nichts mehr mit. Als Christin, als Katholikin, fiel mir eine Antwort nicht schwer. Ich halte grundsätzlich nichts davon, in die »Natur« einzugreifen. Weiß ich, weiß jemand, was ein Mensch fühlt und empfindet, wenn es so aussieht, als bekäme
er nichts mehr mit? Dürfen wir aus unserer Gesundheit heraus Entscheidungen darüber treffen, ob ein Leben nicht mehr lebenswert ist? Wir sprachen lange über das Thema. Es tat dem Mann gut, diese Fragen gemeinsam zu durchdenken – auch wenn meine Antwort vielleicht nicht die war, die er hatte hören wollen.
Ein anderer Patient lief seit Wochen mit einer Halskrause herum. Eine Physiotherapeutin hatte ihm das »Genick gebrochen«, wie er es ausdrückte. Er erzählte, wie es dazu gekommen war: Er hatte von einer bestimmten Form der Behandlung gehört und seinem Arzt davon erzählt. Dieser riet ihm davon ab. Doch der Patient fand eine Physiotherapeutin, die ihn entsprechend behandelte. Jetzt war vermutlich der Halswirbel angeknackst. War das absehbar, lag ein Behandlungsfehler vor? Damals konnte ich die Frage nicht beantworten. Heute würde ich den Fall übernehmen und einen Anspruch durchsetzen.
Die Erfahrungen, die ich in dieser Zeit sammelte, haben meinen Blick auf unser Gesundheitssystem verändert. Ich sah, dass vieles nicht so läuft, wie es eigentlich laufen soll. Ich habe danach zwar weiter Medizin studiert, um einen weißen Kittel anziehen zu können und als Ärztin zu arbeiten, aber meine Gedanken kreisten immer wieder um die Erfahrungen aus jenen Wochen. Das war wie die Hefe im Teig: Ein kleiner Impuls, der gärte und große Wirkung entfaltete.
Kleine Sache, große Wirkung
Wie das Verschieben ihrer Operation eine Patientin das Leben kostete
W enn Mandanten zu mir kommen, ist meist irgendetwas gründlich schiefgelaufen. Was mich immer am meisten erschreckt, ist die fehlende Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Oft scheint mir das überhaupt das Hauptproblem zu sein. Denn viele meiner Mandanten brauchen weniger rechtliche Beratung als vielmehr ärztliche Aufklärung. Manchmal habe ich regelrecht das Gefühl, mehr als Ärztin denn als Rechtsanwältin zu arbeiten. Oftmals erkläre ich den Patienten ihren Behandlungsverlauf. Ganz häufig haben diese einfach nur so ein Gefühl, dass irgendetwas
Weitere Kostenlose Bücher