Behandlungsfehler
zuweilen: »Wir würden Ihnen gern entgegenkommen und vielleicht sogar 75 Prozent des Anspruchs übernehmen, aber wenn wir das tun, müssen wir auch 75 Prozent der Ansprüche übernehmen, die die Sozialversicherungsträger an uns stellen.« Und dann wird es für die Haftpflichtversicherungen richtig teuer.
Vor Kurzem kam Frau Werner mit einem großen Blumenstrauß und einer Schachtel Pralinen in die Kanzlei. Sie wollte sich bedanken. Sie sei so froh, dass der Fall jetzt endlich abgeschlossen wurde. Und sie freute sich auch über das Geld. »Ich möchte doch, dass mein Mann schön aussieht«, sagte sie. Früher hatte sie sich 300 Euro im Jahr für neue Kleider für ihn von der Rente abgespart. Jetzt konnte sie ihm sogar ein gutes Parfüm kaufen. Es hieß jetzt nicht mehr immer nur: was braucht er noch, wie bezahlen wir das bloß? Sie konnte auch ihrem Sohn, der Schwiegertochter und den Enkeln einmal einen Wunsch erfüllen, und sich selbst die kleinen Dinge im Leben erleichtern.
Anschließend verabschiedete sie sich, weil sie noch in das Pflegeheim wollte, zu ihrem Mann. »Manchmal«, sagte sie, »habe ich den Eindruck, dass er mitbekommt, wenn ich da bin. Dann schmunzelt er so ein bisschen.« Von dem ganzen Verfahren weiß er vermutlich nichts. Aber darum ging es auch nicht. Frau Werner ging es um Gerechtigkeit.
Ich freute mich mit Heidemarie Werner. Ihre Geschichte war für mich mehr als nur ein Fall von vielen. Ich wusste, was es heißt, mit jemandem mit zu leben, der im Koma liegt. Ich hatte es selbst erlebt.
Wie der Zufall es wollte
Seitenwechsel – Medizin aus der Sicht von Patienten und Angehörigen
A ls ich anfing zu studieren, hätte ich nie im Traum daran gedacht, einmal als Rechtsanwältin zu arbeiten. Ich wollte Ärztin werden. Ich wollte das so sehr, dass ich sogar bereit war, dafür einen Umweg zu gehen. Weil mein Notendurchschnitt im Abitur nicht dem Numerus clausus für Humanmedizin entsprach, schrieb ich mich für Chemie ein, um zügig in die Biochemie wechseln zu können und von dort als »Quereinsteigerin« zu den Medizinern zu kommen. Ich kämpfte mich durch Mathematik-Kurse und durch die Physikalische Chemie. Was sich da in Zahlen ausdrückte, interessierte mich wenig, auch war mir egal, wie sich der Ball x verformt, wenn er bei der Temperatur t mit der Geschwindigkeit v gegen eine Wand fliegt. Aber ich biss mich durch. Ich sah ein, dass diese Kurse zu den Spielregeln des Studiengangs gehörten. Ich musste sie hinter mich bringen, um »mein Eintrittsticket« zu erwerben.
Nach zwei Jahren konnte ich in die Medizin wechseln – die Biochemie fing da gerade an, mir Spaß zu machen.Endlich konnte ich Kurse besuchen, die mich interessierten, endlich forschen, Praktika am Hahn-Meitner-Institut belegen und die Semesterferien im Labor des Robert-Koch-Institutes verbringen. Ich absolvierte ein Doppelstudium und habe heute sowohl in Biochemie als auch in Medizin einen Abschluss.
Wie so oft in meinem Leben war es ein Zufall, der meinen Lebens- und Berufsweg in eine völlig neue Bahn lenkte. Ich begleitete einen Freund auf dem Weg seiner schweren Krankheit, die letztlich zu seinem Tod führte. Vielleicht wäre der Verlauf ein anderer gewesen, wenn er sich nicht über einen längeren Zeitraum allein in alternativer naturmedizinischer Behandlung befunden hätte, sodass sein Krebsleiden erst sehr spät diagnostiziert wurde. Aber es ist müßig, darüber nachzudenken. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, die Hoffnung auf die Ausnahme von der Regel. Viele Menschen bringen allein aus diesem Grundgedanken heraus die Stärke auf, das Unmögliche möglich zu machen. Sie stellen ihre eigenen Bedürfnisse hinten an, weil sie hoffen, dass ihr »Wissen« eines Besseren belehrt wird. Sie hoffen, dass der Kranke aufsteht und wieder laufen kann, der Krebs durch homöopathische Mittel eingedämmt wird, die medizinische Prognose an dem Lebenswillen des Einzelnen scheitert. Und es passiert auch immer wieder, dass die Dinge sich »schicksalhaft« anders entwickeln als erwartet.
Wenn ich nicht damals diesen Freund begleitet hätte, würde ich vermutlich heute nicht in der Kanzlei Akten wälzen, sondern als Ärztin arbeiten.
Ich verbrachte viele Tage an seinem Krankenbett. Und weil bald jeder der anderen Patienten wusste, dass ich Medizinstudentin und damit angehende Ärztin war, wurde ich zur Ratgeberin, Therapeutin, Seelenheilerin und Todbegleiterin mir vollkommen fremder Menschen, die mir mit großer Offenheit
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