Beherrscher der Zeit
voneinander. Sie waren alle schrecklich ehrlich und ergreifend, wenn man an die Verzweiflung dachte, die dahintersteckte.
Ja, und natürlich waren sie illegal. Aber das hatte der Mann schließlich zugegeben, von selbst zugegeben.
Mit einemmal hatte sie ihre Zweifel überwunden. Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel.
Es gab zwei Türen, je eine zu beiden Seiten des Schaufensters. Die rechte führte in das Rekrutierungsbüro, die linke in einen schwach beleuchteten Hausflur mit einer Treppe in das obere Stockwerk.
Die Wohnung in der ersten Etage – sie lag, wie sie sah, direkt unter dem Dach –, zu der der Schlüssel paßte, war leer, das heißt, es war keine Menschenseele anwesend. Die Tür hatte einen Riegel. Sie schob ihn vor, dann suchte sie müde nach dem Schlafzimmer.
Erst als sie still im Bett lag, wurde sie sich wieder des unendlich schwachen Summens einer Maschine bewußt. Es war eigentlich nur der Hauch eines Geräusches, aber eigentümlicherweise schien er geradewegs in ihr Gehirn zu dringen. Im allerletzten Augenblick, ehe sie einschlief, spürte sie den Puls der Vibration – wenn auch unsagbar fern und vage – wie einen gleichmäßigen Herzschlag in ihrem Innern.
Die ganze Nacht hindurch leistete dieses schwache Summen ihr im Schlaf Gesellschaft. Nur hin und wieder spürte sie es in ihrem Kopf. Sie war sich bewußt, daß sie sehr unruhig schlief. Sie drehte sich, warf sich herum, kuschelte sich zusammen, streckte sich aus. Und immer, in dem Sekundenbruchteil, in dem sie wach war, fühlte sie die sanften Vibrationen ihre Nervenbahnen entlanghuschen, wie kaum merkliche Stromstöße.
Die Sonnenstrahlen, die sich blendend auf der Scheibe des kleinen Fensters brachen, weckten sie schließlich. Einen Augenblick blieb sie angespannt und verängstigt liegen, dann entspannte sie sich verwirrt. Sie konnte sich ihr vorheriges Gefühl nicht erklären. Von der Maschine, die einem ja wirklich auf die Nerven fallen konnte, war nicht der geringste Laut zu hören, aber die Stadt erwachte, und der Lärm auf der Straße wurde immer betäubender.
Fast müder als vor dem Einschlafen stand sie auf. Im Kühlschrank und der kleinen Speisekammer fand sie genug zu essen. Die belebende Kraft des Frühstücks vertrieb ihre Müdigkeit schnell, und sie dachte mit zunehmendem Interesse über ihre Erlebnisse des vergangenen Abends nach. Wie er wohl im Licht aussah, dieser Mann mit dem eigenartigen Akzent?
Eine ungeheure Erleichterung durchflutete sie, als der Schlüssel tatsächlich die Tür zum Rekrutierungsbüro aufsperrte. Insgeheim hatte sie doch ein wenig befürchtet, daß alles ein wirrer Traum gewesen war. Sie schüttelte sich, um auch die letzte Spur ihrer Ängste zu vertreiben. Die Welt war voll Sonne und Freude, nicht die traurige, düstere Behausung von kantigen, introvertierten Menschen.
Sie errötete tief bei der Erinnerung an diese Worte. Es gefiel ihr absolut nicht, daß die ungemein kluge Analyse des schattenhaften Fremden so sehr ins Schwarze getroffen hatte. Es tat ihr regelrecht weh. Seufzend sah sie sich in dem nicht sehr großen Zimmer um. Vier Stühle standen herum, eine Wartebank, ein langer hölzerner Schreibtisch, und an die sonst kahlen Wände waren Zeitungsausschnitte mit Berichten über den kalonischen Krieg geheftet. – Das Zimmer hatte noch eine zweite Tür. Nicht übermäßig neugierig drehte sie an dem Knopf – einmal nur. Die Tür war verschlossen, aber allein die Berührung erschreckte sie. Obwohl sie aussah, als wäre sie aus normalem Holz, bestand sie zweifellos aus Metall! Schließlich überwand sie den Schrecken über diese Entdeckung. Sie dachte: was geht es mich an?
Und eben, als sie sich umdrehen wollte, ging die Tür auf und ein hagerer Mann stand auf der Schwelle. Barsch knurrte er direkt in ihr Gesicht: »O doch! Es geht Sie sehr wohl etwas an!«
Es war nicht Angst, die sie ein paar Schritt zurückweichen ließ. Ohne daß sie sich dessen offen bewußt war, registrierte ihr Gehirn die kalte Stimme, die so ganz anders als in der vergangenen Nacht klang. Vage fiel ihr der höhnische Gesichtsausdruck des Mannes auf. Aber sie empfand nicht wirklich etwas dabei, dazu fühlte sie sich irgendwie zu leer. Nein, Angst hatte sie sicher keine, denn sie brauchte ja nur ein paar Meter zu laufen und schon befand sie sich auf einer Straße mit regem Leben. Außerdem hatte sie sich nie vor Negern gefürchtet, weshalb sollte sie es also jetzt?
Ihr erster Eindruck war so scharf, so
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