Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
Vom Netzwerk:
Lehrer war.« Dies teilte Tibor kühl mit und wartete auf ihre Reaktion. Zu seiner Überraschung sah er, dass sie sich ein Lächeln verkniff.
    »Petrovic, ja«, sagte sie. »Petrovic war zu seiner Zeit ein sehr respektabler Musiker. Und ich weiß, dass er seinen Schülern zweifellos nach wie vor als eine bemerkenswerte Persönlichkeit erscheint. Aber viele von uns halten heute seine Ideen, seinen gesamten Ansatz …« Sie schüttelte den Kopf und breitete die Hände aus. Als Tibor sie plötzlich sprachlos vor Wut anstarrte, legte sie ihm wieder die Hand auf den Arm. »Ich habe genug gesagt, ich habe kein Recht dazu. Ich lasse Sie in Frieden.«
    Sie stand auf, und das besänftigte seinen Zorn; Tibor hatte ein großmütiges Wesen, und es lag nicht in seiner Natur, lange Zeit böse auf jemanden zu sein. Außerdem hatten die Worte der Frau einen Nerv getroffen, hatten an tief verborgene Gedanken gerührt, die er sich selbst nicht recht einzugestehen wagte. Als er zu ihr aufblickte, stand vor allem Ratlosigkeit in seiner Miene.
    »Sie sind wahrscheinlich zu wütend auf mich«, sagte sie, »um jetzt darüber nachzudenken. Aber ich würde Ihnen gern helfen. Falls Sie zu dem Entschluss kommen sollten, darüber zu reden: Ich wohne dort drüben. Im Excelsior.«
    Dieses Hotel, das prächtigste in unserer Stadt, steht genau gegenüber dem Café; sie deutete hinüber, lächelte Tibor an
und ging darauf zu. Tibor sah ihr noch immer nach, als sie sich in der Nähe des Brunnens plötzlich umdrehte, dabei etliche Tauben aufschreckte, und ihm winkte. Dann ging sie weiter.

    Während der nächsten zwei Tage dachte er immer wieder über diese Begegnung nach. Er sah das spöttische kleine Lächeln um ihren Mund, als er so stolz den Namen Petrovic genannt hatte, und neuer Ärger wallte in ihm auf. Aber bei genauerer Überlegung musste er einsehen, dass er eigentlich nicht wegen seines ehemaligen Lehrers wütend geworden war. Vielmehr hatte er sich daran gewöhnt, dass Petrovics Name unweigerlich einen gewissen Eindruck machte, dass er ihm zuverlässig Aufmerksamkeit und Respekt eintrug – anders ausgedrückt: Er trug ihn mit sich herum wie ein Zeugnis, das er überall auf der Welt vorzeigen konnte. Was ihn so verstörte, war die Ahnung, dass dieses Zeugnis womöglich nicht annähernd das Gewicht besaß, das er ihm beigemessen hatte.
    Oft musste er auch an ihre Einladung denken, mit der sie sich verabschiedet hatte, und in den Stunden, die er auf der Piazza saß, glitt sein Blick unwillkürlich immer wieder zur anderen Seite und zum prächtigen Eingang des Hotels Excelsior hinüber, vor dem der Strom von Taxis und Limousinen nicht abriss.
    Am dritten Tag nach dem Gespräch mit Eloise McCormack überquerte er endlich den Platz, betrat die marmorne Eingangshalle und bat an der Rezeption, man möge in ihrem Zimmer anrufen. Der Empfangschef sprach ins Telefon, fragte dann nach seinem Namen, und nach einem kurzen Wortwechsel reichte er Tibor den Hörer.
    »Es tut mir sehr leid«, hörte er sie sagen. »Ich wusste Ihren Namen nicht mehr und brauchte eine Weile, bis ich draufkam,
wer Sie sind. Sie habe ich natürlich nicht vergessen. Im Gegenteil, ich habe schrecklich viel über Sie nachgedacht. Es gibt so vieles, was ich gern mit Ihnen besprechen würde. Aber wissen Sie, wir müssen es richtig machen. Haben Sie Ihr Cello dabei? Nein, natürlich nicht. Aber wieso kommen Sie nicht in einer Stunde wieder, in genau einer Stunde, und diesmal mit Ihrem Cello? Ich werde hier auf Sie warten.«
    Als er mit seinem Instrument wieder ins Excelsior kam, deutete der Empfangschef gleich zu den Aufzügen und sagte, Miss McCormack erwarte ihn schon.
    Dass er ihr Zimmer betreten sollte, auch wenn es mitten am Nachmittag war, kam ihm merkwürdig intim vor, und er war erleichtert, als er eine geräumige Suite vorfand und das Schlafzimmer durch eine geschlossene Tür dem Blick verborgen. Die Lamellenläden vor den hohen Fenstertüren waren offen, sodass sich die Gardinen im Windhauch bauschten, und er sah, dass man vom Balkon aus auf die Piazza hinausblickte. Der Raum selbst hatte mit seinen unverputzten Steinmauern und dem dunklen Holzfußboden direkt etwas Klösterliches – ein Eindruck, den die Blumen, Kissen, antiken Möbel nur teilweise abschwächten. Eloise McCormack hingegen war in T-Shirt, Jogginghose und Sportschuhen, wie eben vom Laufen zurückgekehrt. Sie begrüßte ihn ohne große Umstände, bot ihm weder Tee noch Kaffee an, sondern sagte

Weitere Kostenlose Bücher