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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Tibor natürlich faszinierend. Vielleicht war auch eine Spur Neid dabei – auf Tibors erstklassige musikalische Ausbildung, darauf, dass er sein Leben noch vor sich hatte. Doch ich will nicht ungerecht sein, ich glaube, sie nahmen einfach gern die Tibors dieser Welt unter ihre Fittiche, kümmerten sich ein bisschen um sie, bereiteten sie vielleicht auch auf das Leben vor, damit die unausweichlichen Enttäuschungen nicht ganz so schwer zu verkraften wären.
    Dieser Sommer vor sieben Jahren war ungewöhnlich warm gewesen, und sogar in unserer Stadt konnte man sich zeitweise wie unten an der Adria fühlen. Mehr als vier Monate spielten wir draußen – unter der Markise des Cafés, mit Blick auf die Piazza und sämtliche Tische -, und ich kann Ihnen versichern, das ist eine schweißtreibende Arbeit, auch wenn ringsherum zwei, drei elektrische Ventilatoren surren. Aber es war eine gute Saison, es kamen jede Menge Touristen, viele aus Deutschland und Österreich, dazu die Einheimischen, die vor der Hitze unten an den Stränden flohen. Und es war der Sommer, in dem uns zum ersten Mal Russen auffielen. Heute verschwendest du ja keinen Gedanken an russische Touristen, sie sehen aus wie jedermann. Aber damals waren sie noch so eine Seltenheit, dass man stehen blieb und glotzte. Sie trugen komische
Klamotten und benahmen sich wie Neuzugänge in der Schule. Als wir Tibor zum ersten Mal sahen, hatten wir gerade Pause zwischen zwei Sets und erholten uns an dem großen Tisch, den das Café immer für uns reserviert hatte. Er saß in der Nähe, stand aber dauernd auf, um seinen Cellokasten aus der Sonne zu rücken.
    »Schaut euch den an«, sagte Giancarlo. »Ein russischer Musikstudent, der nicht weiß, wovon er leben soll. Was macht er also? Er vergeudet sein letztes Geld mit Kaffees auf der Piazza.«
    »Sicher ein Trottel«, sagte Ernesto. »Aber ein romantischer Trottel. Verhungert gern, solang er nur den ganzen Nachmittag auf unserem Platz sitzen kann.«
    Er war dünn, hatte sandfarbene Haare und ein altmodisches Brillengestell – riesige Gläser, mit denen er aussah wie ein Panda. Er war jeden Tag hier, und ich weiß nicht mehr, wie genau es kam, aber nach einer Weile saßen wir zwischen zwei Sets mit ihm zusammen und redeten. Und manchmal, wenn er zu unseren Abendauftritten ins Café kam, riefen wir ihn anschließend zu uns an den Tisch und bewirteten ihn auch mal mit Wein und Crostini .
    Bald wussten wir, dass Tibor kein Russe war, sondern Ungar, und dass er wahrscheinlich älter war, als er aussah, denn er hatte bereits an der Royal Academy of Music in London studiert und dann zwei Jahre in Wien bei Oleg Petrovic. Nach einem steinigen Start mit dem alten Maestro hatte er gelernt, mit dessen legendären Wutausbrüchen umzugehen, und war voller Zuversicht und mit etlichen Engagements in angesehenen, wenn auch kleinen Konzertsälen in ganz Europa von Wien abgereist. Aber dann wurden immer öfter Konzerte wegen geringer Nachfrage abgesagt; er war gezwungen gewesen,
Musik zu spielen, die er hasste; Quartiere waren entweder teuer oder schäbig.
    Das gut organisierte Kunst- und Kulturfestival unserer Stadt – das der Anlass war, der ihn in diesem Sommer hergeführt hatte – war für ihn also der dringend benötigte Auftrieb, und als ihm ein alter Freund von der Royal Academy für den Sommer eine kostenlose Unterkunft nahe am Kanal anbot, hatte er keine Sekunde gezögert. Er genieße unsere Stadt sehr, erzählte er uns, aber Geld sei immer ein Problem, und er habe zwar gelegentlich einen Auftritt gehabt, müsse jetzt aber seine nächsten Schritte sehr genau überlegen.
    Nachdem wir uns eine Weile seine Sorgen angehört hatten, fanden Giancarlo und Ernesto, wir müssten versuchen, etwas für ihn zu tun. Und so kam es, dass Tibor Herrn Kaufmann aus Amsterdam kennenlernte, einen entfernten Verwandten von Giancarlo mit Verbindungen zur Hotelbranche.
    Ich erinnere mich sehr gut an diesen Abend. Es war noch früh im Sommer, und Herr Kaufmann, Giancarlo, Ernesto, wir Übrigen, saßen drinnen, im Hinterzimmer des Cafés, und hörten Tibor Cello spielen. Sicher war ihm klar, dass er Herrn Kaufmann eine Kostprobe seines Könnens gab, und im Nachhinein betrachtet ist es interessant, wie erpicht er an dem Abend auf seinen Auftritt war. Er war uns natürlich dankbar, und man merkte ihm an, wie er sich freute, als Herr Kaufmann versprach, er werde sehen, was er für ihn tun könne, sobald er wieder in Amsterdam sei. Wenn die Leute sagen,

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