Bei Anbruch der Nacht
ausgebildeter Durchschnitt sind. Dass Sie jetzt noch verpuppt sind, aber mit ein bisschen Hilfe als Schmetterling hervorkommen.«
»Verstehe. Sollten Sie zufällig diese Person sein?«
»Ach, ich bitte Sie! Ich sehe, Sie sind ein stolzer junger Mann. Aber es sieht mir nicht so aus, als hätten Sie lauter Mentoren, die sich alle ein Bein ausreißen, um was für Sie zu tun. Jedenfalls keinen von meinem Rang.«
Es kam ihm in den Sinn, dass er drauf und dran war, einen kolossalen Bock zu schießen, und er betrachtete das Gesicht der Frau genauer. Sie hatte unterdessen ihre Sonnenbrille abgenommen, und er sah ein in den Grundzügen sanftes und freundliches Gesicht, in dem aber Unmut, vielleicht auch Zorn unterschwellig präsent waren. In der Hoffnung, dass ihm
bald ein Licht aufginge, starrte er sie an, doch am Ende musste er zugeben:
»Es tut mir sehr leid. Sind Sie vielleicht eine herausragende Musikerin?«
»Ich bin Eloise McCormack«, verkündete sie lächelnd und streckte ihm die Hand hin. Leider sagte Tibor der Name gar nichts, und er steckte in der Zwickmühle. Sein erster Impuls war, Verwunderung zu mimen, und deshalb sagte er: »Tatsächlich. Das ist aber erstaunlich.« Dann nahm er sich zusammen und sagte sich, das falsche Spiel sei nicht nur unaufrichtig, sondern würde ihn vermutlich binnen Sekunden auf peinlichste Weise bloßstellen. Also richtete er sich auf und sagte:
»Miss McCormack, es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen. Es wird Ihnen unglaublich vorkommen, aber halten Sie mir bitte zugute, dass ich noch recht jung bin und darüber hinaus im ehemaligen Ostblock, hinter dem Eisernen Vorhang aufgewachsen bin. Es gibt viele Filmstars und politische Persönlichkeiten, deren Namen im Westen ein selbstverständlicher Begriff sind, mir aber sogar heute noch vollkommen unbekannt. Sie müssen mir bitte verzeihen, dass ich nicht genau weiß, wer Sie sind.«
»Na, Sie sind ja begrüßenswert ehrlich.« Ihren Worten zum Trotz war sie offensichtlich gekränkt, und ihr anfänglicher Überschwang schien abzuklingen. Nach einem peinlichen Augenblick fragte er noch einmal:
»Sie sind eine herausragende Musikerin, ja?«
Sie nickte und ließ den Blick über den Platz wandern.
»Ich muss Sie noch einmal um Verzeihung bitten«, sagte er. »Es ist wirklich eine Ehre, dass jemand wie Sie zu meinem Konzert kommt. Und darf ich Sie nach Ihrem Instrument fragen?«
»Dasselbe wie Sie«, sagte sie rasch. »Cello. Deshalb bin ich
gekommen. Auch wenn es ein bescheidenes Konzertchen ist wie das Ihre, kann ich nicht anders. Ich kann nicht dran vorbeigehen. Vermutlich fühle ich eine Art Mission.«
»Eine Mission?«
»Ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll. Ich möchte, dass alle Cellisten gut spielen. Schön spielen. So häufig spielen sie auf eine fehlgeleitete Weise.«
»Entschuldigen Sie, aber sind es nur wir Cellisten, die sich fehlgeleiteter Vorträge schuldig machen? Oder meinen Sie alle Musiker?«
»Vielleicht auch die anderen Instrumente. Aber nachdem ich Cellistin bin, höre ich andere Cellisten, und wenn ich höre, dass etwas falsch läuft … Wissen Sie, im Foyer des Museo Civico sah ich neulich eine Gruppe junger Musiker, und die Leute hasteten einfach an ihnen vorbei, aber ich musste stehen bleiben und zuhören. Und wissen Sie, ich musste wirklich an mich halten, um nicht hinzugehen und es ihnen zu sagen.«
»Machten sie Fehler?«
»Nicht eigentlich Fehler. Aber … nun, es war nicht da. Nicht mal annähernd. Aber bitte, ich bin natürlich auch zu anspruchsvoll. Ich weiß, ich darf nicht erwarten, dass jeder die Messlatte erreicht, die ich mir selbst setze. Vermutlich waren es einfach Musikstudenten.«
Sie lehnte sich zum ersten Mal zurück und beobachtete die Kinder, die sich am Brunnen in der Mitte des Platzes lauthals kreischend gegenseitig nass spritzten. Schließlich sagte Tibor:
»Diesen Drang haben Sie vielleicht auch am Dienstag verspürt. Diesen Drang, auf mich zuzugehen und mir Ratschläge zu geben.«
Sie lächelte, aber im nächsten Moment wurde ihr Gesicht sehr ernst. »Das stimmt«, sagte sie. »Das stimmt wirklich. Denn
als ich Sie hörte, hörte ich auch, wie ich selber einmal war. Verzeihen Sie, das klingt jetzt so unhöflich. Aber die Wahrheit ist, dass Sie momentan noch nicht ganz auf dem richtigen Weg sind. Und als ich Sie hörte, wollte ich nichts lieber tun als Ihnen helfen, ihn zu finden. Es ist nie zu früh.«
»Dann muss ich Sie darauf hinweisen, dass Oleg Petrovic mein
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