Bei Anbruch der Nacht
dass sich Tibor im Verlauf dieses Sommers zu seinem Nachteil veränderte, dass er die Nase höher trug, als gut für ihn war, und dass das alles die Schuld dieser Amerikanerin war – tja, es dürfte etwas Wahres dran sein.
Tibor hatte die Frau entdeckt, als er beim ersten Kaffee des Tages saß. Zu der Zeit war die Piazza noch angenehm kühl – die Ecke, in der das Café ist, liegt den größten Teil des Vormittags im Schatten -, und die Pflastersteine waren noch nass von den Wasserschläuchen der städtischen Straßenreinigung. Nachdem er ohne Frühstück aus dem Haus gegangen war, sah er sie neidisch am Nebentisch mehrere Fruchtsäfte und anschließend, offensichtlich aus einer plötzlichen Laune heraus, denn es war noch nicht zehn Uhr, eine Schale gedünstete Muscheln bestellen. Er hatte den unbestimmten Eindruck, dass die Frau ihrerseits den einen oder anderen verstohlenen Blick zu ihm herüberwarf, maß dem aber weiter keine Bedeutung bei.
»Sie sah sehr nett aus, sogar schön«, erzählte er uns damals. »Aber wisst ihr, sie ist zehn, fünfzehn Jahre älter als ich. Wieso sollte ich denken, dass da was laufen könnte?«
Er hatte sie wieder vergessen und wollte in sein Quartier zurück, um ein paar Stunden zu üben, bevor sein Nachbar über Mittag nach Hause kam und das Radio aufdrehte, da stand plötzlich diese Frau vor ihm.
Sie strahlte ihn an, und alles an ihrem Verhalten deutete darauf hin, dass sie einander kannten. Eigentlich hielt ihn nur seine natürliche Schüchternheit davon ab, sie zu begrüßen. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, als wäre er in einer Prüfung durchgefallen, könnte aber mit Nachsicht rechnen, und sagte:
»Ich war neulich in Ihrem Konzert. In San Lorenzo.«
»Danke«, antwortete er, obwohl ihm klar war, wie dämlich das klang. Nachdem die Frau weiter zu ihm herunterstrahlte, sagte er: »Ah ja, die Kirche San Lorenzo. Das ist richtig. Tatsächlich habe ich dort ein Konzert gegeben.«
Die Frau lachte, dann setzte sie sich überraschend auf den Stuhl ihm gegenüber. »Sie sagen das so, als hätten Sie in der letzten Zeit eine ganze Serie von Auftritten gehabt«, sagte sie mit einem Anflug von Spott.
»Wenn das so ist, dann habe ich Ihnen einen irreführenden Eindruck vermittelt. Das Konzert, das Sie gehört haben, war mein einziges in zwei Monaten.«
»Aber Sie stehen doch noch ganz am Anfang«, sagte sie. »Es ist sehr gut, dass Sie überhaupt engagiert werden. Und war denn nicht eine ganz hübsche Menge Zuhörer da?«
»Eine hübsche Menge? Es waren vierundzwanzig Personen.«
»Mitten am Nachmittag. Für ein Nachmittagskonzert ist das nicht schlecht.«
»Ja, ich darf mich nicht beklagen. Trotzdem, eine hübsche Menge war es nicht. Es waren Touristen, die nichts Besseres zu tun hatten.«
»Ach, seien Sie doch nicht so geringschätzig. Ich war schließlich auch da. Ich war eine von diesen Touristen.« Als er zu erröten begann, denn er hatte sie ja nicht beleidigen wollen, berührte sie seinen Arm und sagte lächelnd: »Sie stehen noch ganz am Anfang. Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Größe des Publikums. Dafür spielen Sie doch nicht.«
»Nein? Wofür spiele ich, wenn nicht für ein Publikum?«
»Das meine ich nicht. Ich meine, dass es für Sie in dieser Phase Ihrer Karriere keine Rolle spielt, ob zwanzig Personen im Publikum sitzen oder hundert. Soll ich Ihnen sagen, warum nicht? Weil Sie es haben!«
»Ich habe es?«
»Sie haben es. Auf jeden Fall. Sie haben … Potenzial .«
Er würgte das jähe Lachen ab, das aus seiner Kehle emporstieg. Er machte sich selbst mehr Vorwürfe als ihr, denn er
hatte wirklich damit gerechnet, dass sie sagte: »Genie«, oder wenigstens »Talent«, und es war ihm sofort klar, welche Illusionen er sich machte, weil er einen Kommentar dieser Art erwartete. Aber die Frau fuhr schon fort:
»In dieser Phase warten Sie doch auf die eine Person, die kommt und Sie hört. Und diese eine Person kann ebenso gut in einer Kirche wie am Dienstag sein, in einem Publikum von zwanzig Personen …«
»Es waren vierundzwanzig, die Veranstalter nicht mitgerechnet …«
»Gut, vierundzwanzig. Aber verstehen Sie: Wie viele Leute Sie hören, spielt jetzt überhaupt keine Rolle. Wichtig ist diese eine Person.«
»Meinen Sie den Mann von der Plattenfirma?«
»Platten-? Oh nein, nein. Das ergibt sich alles von selbst. Nein, ich meine die Person, die Sie erblühen lässt. Die Person, die Sie hört und erkennt, dass Sie nicht einfach nur gut
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