Bei Einbruch der Nacht
hatte er erwidert. »Nichts da«, hatte Suzanne geantwortet. »Der Wacher wird sie hier auf Les Écarts begraben, mit dem gebotenen Respekt vor den Tapferen, die auf dem Felde der Ehre gefallen sind.«
Das hatte Sylvain die Sprache verschlagen, aber er war ihr trotzdem gefolgt. Der Wacher war an der Türe stehengeblieben. Er wachte.
Lawrence grüßte Soliman und kniete sich dann neben die zerrissenen Kadaver. Er drehte sie um, untersuchte die Wunden und durchwühlte die blutgetränkte Wolle auf der Suche nach dem deutlichsten Abdruck. Er zog ein noch ganz junges Weibchen zu sich heran und untersuchte die Bißspur an der Kehle.
»Sol, nimm die Lampe vom Haken«, sagte Suzanne. »Mach ihm Licht.«
Unter dem gelblichen Lichtbündel beugte sich Lawrence über die Wunde.
»Der Reißzahn ist kaum eingedrungen«, murmelte er. »Dafür aber der Eckzahn.«
Er klaubte einen Strohhalm vom Boden und steckte ihn in die blutige Öffnung.
»Was machst du da?« fragte Camille.
»Ich sondiere«, erwiderte Lawrence ruhig.
Der Kanadier zog den Strohhalm heraus und markierte mit einem Fingernagelstrich das Ende des Geröteten. Er gab ihn wortlos Camille, nahm dann einen zweiten Strohhalm, den er zwischen den Wunden ausrichtete. Er stand auf und ging hinaus an die frische Luft, den Daumennagel noch immer auf dem Halm. Er brauchte Luft.
»Die Schafe gehören jetzt dir«, sagte er im Vorbeigehen dem Wacher, der ihm zunickte.
»Sol«, sagte er dann, »hol mir ein Metermaß.«
Soliman lief mit langen Schritten zum Haus hinunter und kam fünf Minuten später mit dem Zollstock von Suzanne zurück.
»Miß«, sagte Lawrence und hielt ihm die beiden Strohhalme ganz gerade hin. »Miß genau.«
Soliman hielt den Zollstock an die blutigen Enden.
»Fünfunddreißig Millimeter«, verkündete er.
Lawrence verzog das Gesicht. Er maß den anderen Strohhalm und gab Soliman den Zollstock zurück.
»Und?« fragte einer der Gendarmen.
»Ein Eckzahn von fast vier Zentimetern.«
»Ja und?« wiederholte der Gendarm. »Ist das schlimm?«
Ein lastendes Schweigen trat ein. Alle ahnten es. Alle begannen, allmählich zu begreifen.
»Großes Tier«, folgerte Lawrence und faßte den allgemeinen Eindruck zusammen.
Zögernd löste sich die Gruppe auf. Die Gendarmen grüßten. Sol ging zum Haus hinunter, der Wacher in den Stall. Lawrence stand etwas abseits, er hatte sich die Hände gewaschen, seine Handschuhe übergezogen und setzte den Motorradhelm auf. Camille trat auf ihn zu.
»Suzanne lädt uns auf ein Glas ein, um klarer zu sehen. Komm.«
Lawrence verzog das Gesicht.
»Sie stinkt«, sagte er.
Camille erstarrte.
»Sie stinkt nicht«, sagte sie etwas aufgebracht, unter Mißachtung jeglicher Wahrheit.
»Sie stinkt«, wiederholte Lawrence.
»Sei nicht unhöflich.«
Lawrence sah Camilles gerunzelte Stirn und lächelte plötzlich.
»Einverstanden«, sagte er und nahm seinen Helm ab.
Er folgte ihr auf dem Weg, der durch vertrocknetes Gras zu der Steinbaracke hinunterführte. Gegen diese Gewohnheit der Franzosen, sich bereits ab Mittag mit Schnäpsen zugrunde zu richten, hatte er allerdings nichts einzuwenden. Das konnten die Kanadier genausogut.
»Ändert aber nichts«, sagte er und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Sie stinkt.«
6
Noch am selben Abend ließ sich die landesweite Nachrichtensendung lang und breit über die neuesten Opfer der Mercantour-Wölfe aus.
»God«, sagte Lawrence. »Könnten die uns vielleicht mal in Ruhe lassen.«
Übrigens war nicht mehr von Wölfen die Rede, sondern von dem Wolf des Mercantour. Eine lange, atemlose Reportage zu Beginn der Nachrichten beschäftigte sich mit ihm. Sie weckte Entsetzen und Haß, indem sie die miteinander verwandten Zutaten Lust und Angst zu einem ungesunden Brei verkochte. Genüßlich wurde das Gemetzel verdammt, ausführlich die Kraft des Tieres geschildert: nicht zu fassen, blutrünstig und von riesenhafter Größe. Vor allem letzteres war Triebkraft des leidenschaftlichen Interesses, das das ganze Land jetzt der »Bestie vom Mercantour« entgegenbrachte. Die außerordentliche Größe, die das Tier über alles Normale hinaushob, aus dem Gewöhnlichen ausschloß, ließ es zu einem Angehörigen der teuflischen Heerscharen werden. Man hatte einen Höllenwolf entdeckt und würde ihn um nichts auf der Welt aufgeben.
»Es wundert mich, daß Suzanne die Journalisten reingelassen haben soll«, sagte Camille.
»Sind allein rein.«
»Diesmal kommt's zur Treibjagd. Man wird sie
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