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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Kerl?
    Adamsberg drehte den Hahn zu und trocknete sich ab. Solange es Stiefel gibt, besteht Hoffnung. Er rubbelte sich die Haare trocken und warf sich einen Blick im Spiegel zu. Es passierte ihm manchmal, daß er an dieses Mädchen dachte. Er mochte das, und es blieb ohne Folgen. Es war wie rausgehen, aufbrechen, um zu sehen und etwas herauszufinden, um seine Gedanken umzuarbeiten, so wie man für die Dauer einer Aufführung ein Bühnenbild aufzieht. Das Schauspiel der »Frau, die geht«. Danach kehrte er zum gewöhnlichen Ablauf seiner Tagträume zurück und ließ Camille auf der Straße. Heute abend war das Schauspiel von der »Frau, die sich in Saint-Victor mit so einem blonden Kerl niederläßt«, weniger amüsant gewesen. Er würde bestimmt nicht mit der Vorstellung einschlafen können, sie zu lieben, was ihm manchmal zwischen zwei Affären passierte. Camille diente ihm als imaginäre Frau, wenn die Wirklichkeit nicht mitkam. Jetzt störte der blonde Kerl das enge Zusammensein.
    Adamsberg streckte sich aus und schloß die Augen. Dieses Mädchen in Stiefeln war nicht Camille, die hatte an einer Platane in Saint-Victor nichts verloren. Dieses Mädchen mußte Mélanie heißen. Und logischerweise hatte der richtige Mann fürs Abenteuer nicht das geringste Recht, ihm das Leben schwer zu machen.

7
    Schon im Morgengrauen hatten sich auf dem Dorfplatz von Saint-Victor Menschen zu kleinen, dichtgedrängten Gruppen zusammengefunden. Lawrence war am Vorabend in großer Eile in das Mercantourmassiv zurückgekehrt. Beistand leisten, die Meute kontrollieren, alle Zugänge überwachen, sie gegen jeden Versuch eines Eindringens verteidigen. Im Prinzip dürfte die Treibjagd sich nur auf die Umgebung von Saint-Victor erstrecken. Im Prinzip würden sich die Jäger nicht in den Mercantour hineinwagen. Im Prinzip setzte man auf ein Tier, das man seit dem Winter aus den Augen verloren hatte, oder ein neu hinzugekommenes aus den Abruzzen. Im Prinzip würden die Wölfe vom Park verschont bleiben. Noch. Aber man durfte sich nicht über den Ausdruck der Gesichter mit den halb geschlossenen Augen und das schweigende Abwarten täuschen: Es herrschte Krieg. Mit dem angeknickten Gewehr über dem Unterarm oder über der Schulter stolzierten die Männer auf dem Platz um den Brunnen herum. Man wartete auf Anweisungen, welcher Gruppe man sich anschließen solle, da mehrere Gruppen gleichzeitig von Saint-Martin, Puygiron, Thorailles, Beauval und Pierrefort aus losziehen sollten. Nach dem letzten Stand sollten die Männer von Saint-Victor sich denen von Saint-Martin anschließen.
    Es herrschte Krieg.
    Neuneinhalb Millionen Schafe. Vierzig Wölfe.
    Camille saß im Café und beobachtete durch die Scheibe die Kriegsvorbereitungen, die entschlossenen Mienen, die Zeichen männlichen Einverständnisses, die kläffenden Hunde. Der Wacher fehlte beim Appell, genau wie Soliman. Der einzige, würdevolle Schäfer des Dorfes schloß sich also der Jagd nicht an, Befehl von Suzanne Rosselin oder vielleicht eine persönliche Entscheidung. Das erstaunte sie nicht. Der Wacher war ein Mann, der seine Rechnungen alleine beglich. Der Fleischer dagegen ging von einer Gruppe zur nächsten und war unfähig, ruhig stehenzubleiben. Fleisch, immer das Fleisch. Da standen Germain, Tourneur, Frosset, Lefèbvre und andere, die Camille nicht kannte.
    Lucie überwachte das Sammeln der Truppen von ihrer Theke aus.
    »Der da«, knurrte sie, »geniert sich auch nicht.«
    »Wer?« fragte Camille und setzte sich neben sie.
    Lucie deutete mit einem Gläsertuch auf eine Gestalt.
    »Massart, der Typ vom Schlachthof.«
    »Der Dicke in der blauen Jacke?«
    »Dahinter. Der, der so aussieht, als hätte er zum Trocknen auf einem Faß gelegen.«
    Camille hatte Massart, der wie es hieß, nie aus seinem Haus runter ins Dorf kam, noch nie gesehen. Er arbeitete im Schlachthof von Digne, lebte zurückgezogen in einem alten Kasten oben am Mont Vence und brachte seine Einkäufe aus der Stadt mit. So sah man ihn selten und hatte wenig Kontakt zu ihm. Es hieß, er sei seltsam, Camille hielt ihn einfach für einen Einzelgänger, was in einem Dorf ungefähr auf dasselbe herauskam. Aber er war tatsächlich etwas seltsam, einfach nicht gut gebaut. Massig, auf krummen Beinen, mit kurzem, breitem Oberkörper, hängenden Armen, die Schirmmütze wie eine Flaschenkapsel über den Schädel gezogen, die Stirn von einem langen Pony verdeckt. Hier hatten alle braune Haut, aber Massart hatte milchweiße Haut wie

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