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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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alles. Man sah nicht mal ihr Gesicht. Das reichte nicht aus, um an Camille zu denken, und doch hatte er genau an sie gedacht. Camille war ganz der Typ Frau, die auch bei fünfunddreißig Grad im Schatten ihre Cowboystiefel an den Füßen behielt. Aber sicher ließen Millionen anderer Mädchen mit schwarzen Haaren und grauer Jacke bei Hitze ihre Stiefel an. Und Camille hatte keinen Grund, auf dem Dorfplatz von Saint-Victor rumzustehen. Oder vielleicht hatte sie einen Grund, dort rumzustehen, was wußte er denn, er hatte sie schließlich seit Jahren nicht gesehen, nicht ein Lebenszeichen, gar nichts. Auch er hatte kein Lebenszeichen von sich gegeben, aber ihn konnte man finden, er hatte sich von seinem Kommissariat nicht entfernt, hing über seinen Fällen, Mord auf Mord. Während Camille wie immer abgehauen war, mit der ihr eigenen Art, unvermittelt zu verschwinden und die anderen ratlos zurückzulassen. Sicher, er war es, der sie verlassen hatte, aber man kann doch von Zeit zu Zeit von sich hören lassen, oder nicht? Nein. Camille war stolz und legte niemandem Rechenschaft ab. Er hatte sie ein einziges Mal wiedergesehen, in einem Zug, das war jetzt mindestens fünf Jahre her. Sie hatten sich zwei Stunden geliebt, und dann nichts mehr, sie war verschwunden, leb dein Leben, Kamerad. Sehr gut, er lebte sein Leben, Kamerad, und es war ihm völlig egal. Es hätte ihn nur einfach interessiert, zu wissen, ob sie das war an der Platane in Saint-Victor.
    Um 23 Uhr 45 kamen wieder Nachrichten, die Schafe, der Schafzüchter, die Schafe und dann der Dorfplatz. Adamsberg beugte sich zum Fernseher vor. Das konnte sie sein, seine Camille, mit der er nichts zu tun hatte und an die er so häufig dachte. Ebensogut konnte es eines von Millionen Mädchen sein. Mehr sah er nicht. Außer einem großen blonden Mann mit langem Haar, der neben ihr stand, ein junger Typ, der richtige Mann für's Abenteuer, geschmeidig und verführerisch, diese Art Mann, der einer Frau die Hand auf die Schulter legt, als ob die ganze Welt seinem Befehl gehorchte. Und dieser Typ, da war er fast sicher, hatte seine Hand auf der Schulter des Mädchens mit den Stiefeln.
    Adamsberg ließ sich in seinen Sessel zurücksinken. Er war kein junger Typ, kein richtiger Mann fürs Abenteuer. Er war nicht groß, er war nicht jung. Er war nicht blond. Er glaubte nicht, daß die ganze Welt seinem Befehl gehorchte. Dieser Typ war eine ganze Menge von dem, was er nicht war. Sein Antipode vielleicht. O. k., und was machte das? Camille liebte wahrscheinlich schon jahrelang blonde Männer, die er nicht kannte. Bei ihm folgten schon jahrelang Frauen jeder Haarfarbe aufeinander, die, wie festzustellen war, im Vergleich zu Camille den realen Vorteil boten, nicht diese verdammten Lederstiefel zu tragen. Diese Frauen trugen Frauenschuhe.
    Sehr gut, leb dein Leben, Kamerad. Ihm machte weniger der junge Typ Sorgen als die Vorstellung, Camille könnte in Saint-Victor seßhaft geworden sein. Er stellte sich Camille noch immer in Bewegung vor, wie sie Städte durchquerte, Landstraßen entlanglief, auf dem Rücken einen Rucksack mit Partituren und Rollgabelschlüsseln, niemals gesetzt, nie sitzend und im Grunde also nie erobert. Sie in diesem Dorf zu sehen verwirrte ihn. Damit wurde alles vorstellbar. Zum Beispiel, daß sie dort ein Haus besaß, einen Stuhl, einen Bol für den Milchkaffee, warum nicht einen Bol?, und dann noch ein Waschbecken und schließlich ein Bett und einen Kerl darin, und vielleicht mit dem Kerl eine statische Liebe mit satter Bodenhaftung, so wie ein robuster Bauernhoftisch, sauber, schlicht und mit heißem Wasser gescheuert. Camille unbeweglich, gefesselt an den blonden Kerl, mit ihrem Einverständnis und ohne Gegenwehr. Was nicht einen, sondern zwei Bols ergeben würde. Und wo man schon dabei ist, auch noch Teller, Bestecke, Töpfe, Lampen und, im schlimmsten Fall, einen Teppich. Zwei Bols. Zwei große, saubere, schlichte, mit heißem Wasser gescheuerte Bols für den Milchkaffee.
    Adamsberg spürte, daß er im Begriff war, einzuschlafen. Er stand auf, machte den Fernseher und das Licht aus und ging duschen. Zwei Bols mit sauberem, schlichtem, mit heißem Wasser gescheuertem Kaffee. Gut und schön, aber man so weit war, erklärte das alles nicht die Stiefel.
    Was hatten die Stiefel in der Geschichte verloren, wenn es nur darum ging, vom Bett zum Tisch und vorn Tisch zum Klavier zu gehen? Und vom Klavier zum Bett? Mit dem mit heißem Wasser gescheuerten

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