Mord mit Schnucke: Heidekrimi (German Edition)
Prolog
Das Prachtexemplar stand perfekt in der Schusslinie. Ein Sechzehnender.
Was für ein kapitaler Bock! Der Jäger leckte sich die Lippen. So einer fehlte ihm noch in seiner Sammlung. Er sah die Trophäe schon vor sich. An der Wand über seinem Schreibtisch in der Bank. Direkt neben dem Wildschweinkopf und den kleineren Geweihen.
Sollten die Besucher sich doch angeekelt abwenden! War ihm gleichgültig. All diese feinen Hamburger Bürger, die sich im Tierschutz engagierten und abends ein ordentliches Stück Fleisch auf dem Teller verlangten, konnten ihm gestohlen bleiben. Die wussten nichts von den Adrenalinschüben, die sein Körper brauchte. Die hatten noch nie diese reine Waldluft eingeatmet, die sich mit dem Duft der nahen Heide vermischte. Die kannten nicht das erhebende Glücksgefühl eines echten Mannes, der seine Urinstinkte auslebte.
Der Jäger hielt den Atem an. Dies war der Moment, den er am meisten genoss. Die Sekunde, bevor sein Finger den Abzug betätigte. Der Augenblick, in dem er sich einbildete, es gäbe so etwas wie einen fairen Kampf zwischen ihm und dem Wild.
Dann der Knall.
Der Bock sprang davon.
Der Zeigefinger des Jägers zuckte unkontrolliert. Zu spät löste sich der Schuss aus seiner Jagdflinte, die Kugel verfehlte ihr Ziel.
Eine andere Kugel hatte getroffen.
Ein kleines Gerät auf dem Gartentisch vibrierte und schmetterte dann mit Pauken und Trompeten den Bayerischen Defiliermarsch in den goldenen Septembernachmittag. Hanna Petersen fuhr aus ihrem Liegestuhl hoch. Bis gestern noch hatte ihr Smartphone ganz normal geklingelt. Für diesen Streich kam nur ein Mensch in Frage.
»Westermann«, knurrte Hanna und sprang auf. »Dich bring ich um.«
War bloß grad keiner da zum Umbringen. Polizeikommissar Fritz Westermann befand sich mit dem Großteil der Einwohnerschaft von Hasellöhne auf der diesjährigen Treibjagd, dem Höhepunkt schlechthin im kulturellen Leben des Ortes.
Kulturell, dachte Hanna, wie man’s nimmt. Persönlich hatte sie was gegen erschossene Tiere. Gegen erschossene Menschen auch, aber das war eher beruflich bedingt.
Luise kam auf die Terrasse und verzog geradezu angewidert die Mundwinkel. Sie war durch und durch Preußin. Alles, was südlich von Hannover lag, war ihr suspekt.
»Schätzchen, nimm lieber ein schönes Volkslied«, sagte sie, als besäße Hanna die Entscheidungsgewalt über ihre Klingeltöne. »Zum Beispiel ›Auf der Lüneburger Heide‹.Würde auch besser passen.«
Luise war ihr ein paar Generationen voraus und ausgesprochen wahlheimatverbunden. Sie summte das Lied vor sich hin, während Hanna hektisch auf dem Smartphone herumhackte, um es zum Schweigen zu bringen. Nicht, dass die Nachbarn noch die Polizei riefen wegen einer bayerischen Ruhestörung. Oder die Feuerwehr. Die Polizei war ja schon da und machte gerade zwei Schritte auf den Gartenteich zu. Zur Not musste das Smartphone ei nen schnellen Wassertod sterben.
Luise sang jetzt: »Valleri, vallera, und juchheirassa, und juchheirassa …«
Hanna blieb unschlüssig stehen.
Die Bayern gaben nicht auf.
»Einfach rangehen!«, rief ihr Luise zu und schmetterte dann was vom Muskatellerwein, der ausgetrunken werden muss, weil er vom langen Stehen sauer wird.
»Darauf bin ich noch gar nicht gekommen«, erwiderte Hanna genervt. Das Problem war nur: Ihr Smartphone war neu, hatte tausend tolle Funktionen, von denen sie maximal zehn Prozent kapierte, und die richtige Taste musste erst mal gefunden werden.
Endlich!
»Petersen«, meldete sie sich knapp und legte ihre ganze schlechte Laune in ihren Nachnamen. War nicht wenig. Wenn es Westermann war, dann konnte der was erleben.
Und wäre stattdessen Hendrik dran gewesen, dachte sie noch, dann hätte er eben Pech gehabt. Oder sie selbst. Schwer zu sagen. Exfreunde, die keine »Ex« mehr sein wollen, sind eine komplizierte Angelegenheit.
Es war nicht Hendrik.
Die Stimme war zu einer Art Raunen gesenkt, und was sie sagte, jagte ihr an diesem ungewöhnlich warmen Tag einen kalten Schauder über den Rücken. »Mord. Im Wald von Fallersleben. Kommen Sie schnell!«
Ihre linke Ohrmuschel wurde heiß, weil sie das Smartphone so fest dagegendrückte. »Wenn das ein Scherz sein soll, dann rate ich Ihnen …«
»Kein Scherz«, kam es heiser zurück.
Hanna sah plötzlich einen Mann vor sich, der ein Taschentuch über das Telefon legte, um seine Stimme zu verzerren. Wer oft genug Tatort schaute, wusste, wie das ging.
Trotzdem kam ihr diese Stimme ganz
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