Bei Einbruch der Nacht
Verständnis für den Gegenstand, seinen Aufbau, seine Wirksamkeit - wie zugleich auch eine starke lyrische Befriedigung. Dazu kam der heimliche Traum, alle Probleme des Planeten mit der Drehbank-Fräsen-Kombination oder dem Universalspannfutterschlüssel lösen zu können. Der Katalog barg die Hoffnung, mit Hilfe von Kraft und Schlauheit allen Ärger der menschlichen Existenz bezwingen zu können. Gewiß eine trügerische Hoffnung, aber immerhin eine Hoffnung. So schöpfte Camille ihre Lebensenergie aus zwei Quellen: Dem Komponieren von Musik und dem Katalog für handwerkliches Arbeitsgerät. Vor zehn Jahren hatte sie auch noch auf die Liebe gezählt, aber sie hatte ihre Ansprüche, was diese alte, bis zum Überdruß wiedergekäute Sache mit der Liebe anging, ziemlich zurückgeschraubt. Die Liebe verlieh einem Flügel, um einem die Beine abzusägen - das lohnte also nicht. Lohnte sehr viel weniger als zum Beispiel ein Zehn-Tonnen-Wagenheber mit Hydromechanik. Im großen und ganzen war es mit der Liebe doch so: Wenn man jemanden nicht liebte, blieb er, und wenn man jemanden liebte, lief er davon. Ein einfaches System ohne Überraschungen, das unfehlbar gähnende Langeweile oder eine Katastrophe zeitigte. All das für zwanzig Tage Entzücken, nein, das lohnte wirklich nicht. Die dauerhafte Liebe, die Liebe, die etwas begründet, die Liebe, die stärkt, adelt, heiligt, reinigt und wiedergutmacht, kurz, all das, was man über die Liebe denkt, bevor man versucht, die Sache wirklich mal auszuprobieren, war dummes Zeug. Diesen Punkt hatte Camille nach langen Jahren der Versuche, nach nicht gerade wenigen bitteren Enttäuschungen und einer handfesten Verzweiflung erreicht. Dummes Zeug, ein Schwindel für Naive, ein glücklicher Fund für Narzißten. Anders gesagt, war Camille, was die Liebe anging, ziemlich abgebrüht, und sie empfand weder Bedauern noch Befriedigung darüber. Das Abbrühen hinderte sie nicht daran, Lawrence auf ihre Art aufrichtig zu lieben. Ihn zu schätzen, ihn sogar zu bewundern, sich an ihm zu wärmen. Und in keiner Weise irgend etwas von ihm zu erhoffen. Camille hatte sich von der Liebe nur das unmittelbare Verlangen und die kurzzeitigen Gefühle bewahrt und jegliches Ideal, jegliche Hoffnung, jegliche Größe eingemauert. Sie erwartete fast nichts von fast niemandem. Nur noch auf diese Weise konnte sie lieben, in einem gewinnlerischen und wohlwollenden Geisteszustand, der sich an der Grenze zur Gleichgültigkeit bewegte.
Camille setzte sich weiter in den Schatten, legte die Jacke ab und vertiefte sich gut zwei Stunden lang in das aufmerksame Studium des Einband-Winkelschleifers, 800 Watt, mit Steintrennscheibe, der Keller-Pumpe mit zweifach isoliertem Turbinengehäuse und anderen ebenso tröstlichen wie erbaulichen Raffinessen. Aber ihr Blick löste sich immer wieder vom Katalog und schweifte über die Umgebung. Ihr war nicht wohl, und ihre Hand umklammerte den Stock. Plötzlich nahm sie ein Knacken wahr, dann das Rascheln von Gebüsch. Blitzschnell stand sie auf dem Stein, den Stock hochgereckt, ihr Herz raste. In zehn Meter Entfernung tauchte ein Wildschwein auf und flüchtete ins Gestrüpp, als es sie sah. Camille keuchte, machte ihren Rucksack zu und stieg den Pfad wieder in Richtung Saint-Victor hinunter. Das Gebirge tat ihr im Augenblick nicht gut.
Als die Nacht hereinbrach, setzte sie sich im Schneidersitz auf die Einfassung des Waschhauses, legte Brot und Käse auf den Stein, beobachtete die Rückkehr der Jäger, hörte den dumpfen Lärm, der vom erlittenen Mißerfolg kündete. Von dort oben sah sie Lawrence, der auf seinem Motorrad herauffuhr. Anstatt es wie gewöhnlich auf dem Platz aufzubocken, zog er es vor, an den müden Männern vorbei- und den steilen Pfad hinaufzufahren, der zum Haus führte.
Als Camille das Haus erreichte, saß er in Gedanken versunken auf der hohen Türschwelle, den Helm noch in der Hand. Sie setzte sich neben ihn, und Lawrence legte seinen Arm um ihre Schulter.
»Was Neues?«
Lawrence schüttelte den Kopf.
»Ärger?«
Dieselbe Bewegung.
»Sibellius?«
»Gefunden. Mit seinem Bruder Porcus. Revier ganz im Südosten. Bösartig wie Lumpenkerle. Bösartig, aber nicht aus der Ruhe zu bringen. Die Jungs wollen versuchen, sie zu betäuben.«
»Wozu?«
»Kieferabdruck.«
Camille nickte.
»Crassus?« fragte sie.
Lawrence schüttelte erneut den Kopf.
»Keine Fährte«, sagte er.
Camille aß schweigend ihr Stück Käse zu Ende. Manchmal war es ermüdend, dem
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