Bei Einbruch der Nacht
ein Pfarrer, der nie seine Kirche verläßt. Mit gesenktem Gewehr wartete er etwas abseits, linkisch an einen weißen Lieferwagen gelehnt. Er hielt einen großen, gefleckten Hund an der Leine.
»Geht er nie aus?« fragte Camille.
»Nur um zum Schlachthof zu fahren. Die restliche Zeit schließt er sich da oben ein und macht Gott weiß was.«
»Was?«
»Gott weiß was. Er hat keine Frau. Er hat nie eine Frau gehabt.«
Lucie wischte die Scheibe mit ihrem Tuch, wie um Zeit für den nächsten Satz zu gewinnen.
»Er hat es vielleicht nicht geschafft«, sagte sie leiser. »Vielleicht konnte er nicht.«
Camille antwortete nicht.
»Es gibt Leute, die sagen was anderes«, fuhr Lucie fort.
»Zum Beispiel?«
»Was anderes«, wiederholte Lucie achselzuckend. »Jedenfalls hat er keine einzige Petition gegen die Wölfe unterschrieben, seitdem die da oben leben«, fuhr sie nach kurzem Schweigen fort. »Und es gab 'ne ganze Menge Petitionen und Versammlungen. Aber bei ihm könnte man fast glauben, er wäre für die Wölfe. Wenn man so lange Zeit da oben wie ein Wilder lebt, ohne Frau oder sonstwas. Den Kindern ist's verboten, da raufzugehen.«
»Er sieht nicht aus wie ein Wilder«, sagte Camille, die das gebügelte Hemd, die saubere Jacke und das rasierte Kinn musterte.
»Und jetzt«, fuhr Lucie fort, ohne Camille zuzuhören, »steht er da mit seinem Gewehr und seinem Köter. Der geniert sich wirklich nicht, dieser Massart.«
»Redet niemand mit ihm?« fragte Camille.
»Das nützt nichts. Er mag die Leute nicht.«
Auf ein Zeichen des Bürgermeisters hin wurden plötzlich die Zigarettenkippen ausgetreten, die Motoren angelassen, man zwängte sich Leib an Leib in die Autos, hinten nur jeweils zwei und die Hunde. Die Türen schlugen zu, überall fuhren Autos an. Einen Moment lang stank der Platz nach Diesel, dann verflüchtigte sich der Geruch.
»Ob sie ihn wohl schnappen?« seufzte Lucie zweifelnd und verschränkte die Arme auf ihrer Theke.
Camille enthielt sich einer Antwort. Sie schaffte es nicht, auf genauso klare Weise ihr Lager zu wählen wie Lawrence. Aus der Ferne betrachtet, hätte sie die Wölfe, alle Wölfe, verteidigt. Von nahem gesehen, fand sie das weniger einfach. Die Schäfer wagten es nicht mehr, ihre wandernden Herden zu verlassen, die Schafe wollten nicht lammen, die Angriffe wurden immer zahlreicher, überall gab es jetzt Schutzhunde, die Kinder liefen nicht mehr im Gebirge herum. Aber sie verabscheute Kriege, Vernichtung, und diese Treibjagd war der erste Schritt dazu. Ihre Gedanken wandten sich dem Wolf zu, wie um ihn vor der Gefahr zu warnen, lauf, verzieh dich, leb dein Leben, Kamerad. Wenn diese Faulpelze von Wölfen sich doch mit den Gemsen des Parks zufriedengegeben hätten. Aber nein, sie suchten das Allereinfachste, und das war das Drama. Es wäre besser, ins Haus zurückzugehen, die Türen zu schließen und an die Arbeit zu denken. Obwohl sie zum Komponieren heute überhaupt keine Lust hatte.
Klempnerarbeiten also. Das war die Rettung.
Sie hatte mehrere Aufträge vor sich: Eine Heizungspumpe beim Inhaber des Tabakgeschäfts, ein Gasboiler, der bei jedem Zünden zu explodieren drohte - hier war das die nötige Reparatur schlechthin -, und ein Abflußrohr, aus dem es rausquoll, direkt hier im Café.
»Ich werd die Sache mit dem Abflußrohr regeln«, sagte Camille. »Ich hol mein Werkzeug.«
Gegen acht Uhr abends war noch niemand von der Treibjagd zurückgekommen, was vermuten ließ, daß das Tier Schwierigkeiten machte. Camille beendete ihre Arbeit, setzte die Verkleidung des alten Boilers wieder auf und regelte den Druck. Noch über zwei Stunden Warten. Dann würde es Nacht, und die Suche müßte bis zum nächsten Tag unterbrochen werden.
Am Waschhaus oberhalb des Dorfes wartete Camille auf die Rückkehrer. Sie hatte Brot und Käse auf die noch warme Steineinfassung gelegt und aß langsam, um sich in Geduld zu üben. Kurz vor zehn Uhr rollten die Autos auf den Platz, Türen schlugen, die Männer kletterten, schon weniger feurig, mühsam aus den Wagen. An ihren schleppenden Schritten, den farblosen Stimmen, den Klagelauten der erschöpften Hunde merkte Camille, daß die Treibjagd erfolglos geblieben war. Das Tier war listig. Camille sandte ihm im Geiste ein Glückwunschtelegramm. Leb dein Leben, Kamerad.
Dann erst entschloß sie sich, ins Haus zurückzugehen. Bevor sie den Synthesizer einschaltete, rief sie Lawrence an. Kein Eindringen von Jägern in den Park, Sibellius nicht
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