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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Rücken, lange Gliedmaßen und feine Hände. Seine Gesichtszüge waren rein, noch kindlich, fast durchsichtig. Aber auf seinem Gesicht lag immer ein Hauch von Ironie oder Vergnügen, so als habe er Mühe, einen ungeheuer komischen Witz oder eine höhere Weisheit für sich zu behalten, als spreche er zu sich selber und sage: Macht euch jetzt auf was wirklich Witziges gefaßt. Camille stellte sich vor, daß es vielleicht die Einflüsse des Wörterbuchs zusammen mit den afrikanischen Geschichten waren, die Soliman dieses sonderbare Lächeln eines Wissenden verliehen hatten, dieses Lächeln, das sein Gesicht auf merkwürdige Weise erhellte und ihm widersprüchliche Ausdrücke gab, manchmal folgsam, gutmütig, dann wieder düster und autoritär. Sie fragte sich, welche Art Lächeln wohl die intensive Lektüre des Katalogs für handwerkliches Arbeitsgerät bewirken würde, vielleicht ein nicht gerade erstrebenswertes.
    Camille stellte ihre eigene Tasche in den Lastwagen, verteilte den Inhalt in der Schublade unter dem hinteren linken Bett, das Buteil ihr zugewiesen hatte, schloß die Hecktüren, hievte sich auf den Fahrersitz neben die zwei Männer, die bereits Platz genommen hatten, Soliman in der Mitte, der Schäfer am Fenster.
    »Es ist besser, Sie legen den Stock auf den Boden«, empfahl sie dem Wacher und beugte sich zu ihm. »Wenn ich scharf bremsen muß, haut er Ihnen aufs Kinn.«
    Der Wacher zögerte, dachte nach und legte den Stock unter seine Füße.
    »Und der Sicherheitsgurt«, ergänzte Camille mit sanfter Stimme. Sie fragte sich, ob der Wacher überhaupt je in ein Auto gestiegen war. »Man muß dieses Ding anlegen, falls ich mal scharf bremsen muß.«
    »Das klemmt mich ein«, sagte der Wacher. »Ich mag es nicht, wenn ich eingeklemmt bin.«
    »So sind die Bestimmungen«, sagte Camille. »Das ist Pflicht.«
    »Wir scheißen auf die Bestimmungen«, sagte Soliman.
    »Verstanden«, sagte Camille und drehte den Zündschlüssel. »In welche Richtung geht es denn ungefähr?«
    »Direkt nach Norden, Richtung Mercantour.«
    »Und welche Strecke?«
    »Durch das Tal der Tinée.«
    »Gut. Das ist auch meine Richtung.«
    »Ach ja?« fragte Soliman.
    »Ja. Ich erklär dir den Plan unterwegs.«
    Dröhnend setzte sich der Viehtransporter auf dem steinigen Feldweg in Bewegung. Buteil, der an der alten Holzschranke lehnte, winkte ihnen nach und sah so bekümmert aus, als würde ihm sein eigenes Haus durch die Felder davonfahren.

17
    Camille bog mit dem Wagen langsam auf die Straße ein.
    »War es unbedingt nötig, den Hund mitzunehmen?« fragte sie.
    »Keine Sorge«, antwortete der Wacher, »das ist ein Hütehund. Er verjagt Wölfe, Füchse und sämtliches Dreckspack, das sonst noch rumläuft, und auch die Werwölfe. Aber Frauen rührt er nicht an. Interlock respektiert die Frauen.«
    »Ich mach mir keine Sorgen«, sagte Camille sanft, »es ist nur, weil er stark riecht.«
    »Er riecht nach Hund.«
    »Ja, eben.«
    »Man kann einen Hund nicht daran hindern, nach Hund zu riechen. Interlock wird über uns wachen. Sie können sich darauf verlassen, daß er diesen vermaledeiten Werwolf in einem Umkreis von fünf Kilometern wittert. Es braucht ja niemand zu wissen, daß er abgefeilte Zähne hat.«
    »Abgefeilt?«
    »Er ist ein Hütehund. Er darf den Tieren keinen Schaden zufügen. Wenn er Geschmack am Blut findet, muß man ihn erschießen. Aber Interlock hat eine gute Spürnase. Er hat in Massarts Hütte seine Witterung aufgenommen und wird ihn finden.«
    Camille schüttelte den Kopf, ohne ihre Aufmerksamkeit von der Straße abzuwenden. Sie fuhr im vierten Gang und hatte den Lastwagen im Moment gut im Griff. Beim Fahren machte er einen Höllenlärm. Das Metallgestänge der Sichtfenster klapperte bei jeder Erschütterung. Man mußte laut reden, um sich verständlich zu machen. Sie hatten die Scheiben heruntergekurbelt und die Planen hochgezogen, um zu lüften.
    »Interlock? Heißt der wirklich so?« fragte sie.
    »Das habe ich durch Zufall im Wörterbuch gefunden, als er geboren wurde«, erklärte Soliman. »›Interlock. Männliches Substantiv. Strickmaschine zur Herstellung eines Maschengewebes. Unterkleidung, die mit dieser Maschine gestrickt wurde.‹«
    »Ah ja«, sagte Camille. »Wieviel Uhr ist es?«
    »Nach sechs.«
    »Wie war nun dein Plan, Sol?«
    »Es ist auch der Plan vom Wacher.«
    Sie folgten inzwischen der Landstraße am Fluß entlang Richtung Norden. Camille fuhr in gemächlichem Tempo und nahm sich Zeit, sich an

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