Beifang
die eine, zögernd die andere.
Soweit Berndorf es beurteilen konnte, zeigte die Fotografie eben den Ring, den er aus der Urne mit der Asche der Marianne Gaspard herausgenommen hatte. Soweit er es beurteilen konnte! Auf der Rückseite der Fotografie war mit Bleistift in sehr akkuratem Sütterlin vermerkt:
Stuttgart 1924, Franziska mit dem Ring ihrer Großmutter Ännchen Nördlinger
Er hörte, dass Judith Kahn-Ericson nicht zufrieden war. Wer hat die Annonce bezahlt?, hakte sie nach.
»Expense account«, sagte er unwillig und hoffte, dass das auch wirklich Spesenkonto bedeutete. Welches Spesenkonto? Egal. Weiter vorne kam ein Parkplatz in Sicht, er steuerte ihn an und stoppte auf einem freien Platz. Dann holte er einen Umschlag aus dem Handschuhfach und reichte ihn nach hinten. »Machen Sie den Umschlag auf, schauen Sie sich an, was darin ist, und entscheiden Sie dann.« Plötzlich war er schlechter Laune und hatte keine Lust, es zu verbergen.
Eine Hand nahm den Umschlag. Berndorf stieg aus und bat, ihn einen Augenblick zu entschuldigen, dann ging er zu der Toilette des Parkplatzes und schlug sein Wasser ab. Ein einziges Wort noch, dachte er …
Die beiden Frauen unterhielten sich leise, als er zurückkam,
Thema war der Schmuck oder vor allem der Ring, den die Kahn-Ericson in der offenen Hand hielt.
»Sie fragt, ob du denn wirklich sicher bist, dass das der Ring ihrer Großmutter ist?«, sagte Barbara.
»Nein«, sagte Berndorf, »ich bin mir nicht sicher.« Plötzlich überkam ihn die Versuchung, sich umzudrehen und zu sagen: Wenn der Ring Ihnen nicht gehört, bringt er Ihnen auch kein Glück … Im letzten Augenblick fiel ihm Franziska Kahn ein und was er von ihrem Leben wusste, oder von den letzten Wochen ihres Lebens, soweit er die Akten dazu hatte einsehen können:
Mitte Juni 1942 hatten die Behörden auf Betreiben der Stadtverwaltung Ulm damit begonnen, das Herrlinger Heim zu räumen; am 2. Juli war Franziska Kahn deshalb in das vierzig Kilometer entfernte Oberstotzingen gebracht worden, in ein heruntergekommenes Schloss ohne Sanitäranlagen, dann am 20. August nach Stuttgart, in eine Halle auf dem Killesberg, von wo sie zwei Tage später mit fast elfhundert anderen alten jüdischen Frauen und Männern nach Theresienstadt deportiert worden war. Der letzte Vermerk über Franziska Kahn stammt vom 26. September 1942: An diesem Tag wurde sie, damals 66 Jahre alt, zu einem Transport nach Treblinka abgeholt. Danach? Nichts mehr. Vermutlich war sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in der Gaskammer oder von einem Erschießungskommando ermordet worden, vielleicht auch hatte ein deutscher oder ukrainischer SS-Mann sie mit dem Gewehrkolben totgeschlagen …
Nun drehte er sich doch um. Judith Kahn hielt den Schmuck noch immer in der offenen Hand und betrachtete ihn mit einem Blick, den er nicht deuten konnte.
»Hören Sie - ich will Ihnen nichts aufdrängen«, sagte er. »Wenn Sie selbst nicht überzeugt sind, schicken wir ihn an die Jüdische Gemeinde oder - wenn Ihnen das lieber ist - an das Jüdische Museum in Berlin.«
Doch sie schüttelte den Kopf und fuhr ihn plötzlich in akzentfreiem Deutsch an: »Das ist keine Lösung. Es ist nicht meine
Sache, zu entscheiden, ob mir dieser Ring gehört, und Ihre ist es auch nicht, verstehen Sie das?« Sie griff in ihr Bordcase und holte ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. »Das ist eine Abschrift des letzten Briefes, den meine Großmutter über die Adresse einer Schweizer Verwandten an meine Mutter schicken konnte, datiert vom fünfzehnten August 1942...« Sie faltete das Blatt auseinander und las vor:
»Liebe Alex, auf den Telefondrähten haben sich schon die Schwalben versammelt und machen sich wohl bald auf den Flug nach Süden, kein Krieg und nichts kann sie schrecken. Wir haben heute die Mitteilung bekommen, dass auch wir in den nächsten Tagen wieder aufbrechen werden, unser Ziel wird Theresienstadt sein, nicht weit von der Mündung der Eger in die Elbe, du hast den Namen sicher schon gehört. Wir sind hier bereits dabei, unsere Sachen zu packen, aber wir werden das Gepäck nicht selber tragen müssen. Es wird abgeholt. Du siehst, wir müssen uns um nichts mehr Sorgen machen, es ist an alles gedacht. Und was nicht verloren gehen soll, das wird seinen Weg finden. Vorläufig freilich werden wir uns nicht mehr schreiben können, das ist wohl schmerzlich, aber in Gedanken bin ich immer bei dir...«
Judith Kahn faltete das Blatt wieder
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