Beifang
das Dinge, von denen auch ich nichts weiß?«
»Ich fürchte«, sagte Berndorf und griff nach der Tübinger Ausgabe des Tagblatts , »sie würden dir nicht gefallen.«
Barbara hob die Augenbrauen. »Dann sollten sie erst recht zur Sprache kommen, findest du nicht?«
»Nein«, sagte er, »das finde ich nicht. Es muss nicht alles zur Sprache kommen. Nimm doch nur die Geschichte dieses Rings - der ist seine dreihundert Jahre alt oder noch älter, was weißt du vom Leben der Frauen, die ihn getragen haben? … Geh nur hundert Jahre zurück, und diese Schicksale gleichen einem Wurzelgeflecht, das du kaum mehr überschauen kannst. Gehe drei Jahrhunderte zurück, und das Geflecht verzweigt sich ins Unendliche, versinkt in einem Ozean von Hoffnung Enttäuschung Glück Liebe Unglück Leid Entbehrung Hunger Frömmigkeit Überlebenskampf, und alles ist vergangen und vorbei
und würde doch erzählt werden wollen... Wer will das zuwege bringen?«
»Du weichst mir aus«, sagte Barbara. »Du willst dich um einen Bericht drücken, weil du mit deiner eigenen Rolle nicht zufrieden bist.«
»Ach ja?«, fragte Berndorf, ein wenig mechanisch. Auf der Titelseite des Tagblatts war auf einen Artikel im Landesüberblick verwiesen worden, und er war dabei, die Seite aufzuschlagen.
»Du hast zugelassen, dass Steinbronner diese ganze Geschichte vertuschen kann.«
»Hab ich das?«
»Der Mord an Eisholm ist vertuscht worden, und dir ist das offenbar ganz egal. Aber dass die Neckarwerke mit einem blauen Auge davonkommen, dass sie gerade einmal einen ihrer Aufsichtsräte und Tantiemenverzehrer durch einen anderen ersetzen müssen und im Übrigen ihr Netzwerk von Abhängigkeit und Korruption ungestört weiterspinnen können, bis irgendwann einer dieser Atommeiler doch noch durchbrennt, das darf dir nicht egal sein... Hörst du mir eigentlich zu?«
»Gewiss höre ich dir zu«, antwortete Berndorf und faltete die Zeitung zusammen, die er hatte aufschlagen wollen. Über den bewaldeten Hügeln blaute der Himmel, nur im Südwesten stieg eine merkwürdig weiße Wolkensäule hoch. »Und ganz gewiss brennt einmal einer dieser Meiler durch, das ist nur eine Frage der Zeit... aber was rede ich da! Es gibt ja noch den alten abgehalfterten Bullen, der hat zwar nichts in der Hand, keine Legitimation, keinen Beweis, gar nichts außer der läppischen Information, dass ein hübsches Mädchen gegen Geld zu einem behördlichen Nichtsseher nett gewesen ist - aber irgendwie wird der Alte es schon richten, wird das Land Baden-Württemberg aufmischen und die ganze Atomwirtschaft dazu, auf dass die Republik weiterhin unbesorgt strahlen kann im Glanz ihrer Festbeleuchtung, des Tags und in der Nacht …«
»Versuch nicht, zynisch zu werden«, sagte Barbara. »Das steht dir nicht.«
»Aber den Märchenhelden spielen, den Zorro, der mit der
Korruption in der Republik aufräumt und mit der Schludrigkeit der Behörden und den Kungeleien der politischen Klasse: das freilich würde mir stehen? Meinst du das wirklich? Da lachen nicht einmal mehr die Hühner, mein Schatz, denn die Märchenstunde ist vorbei, und was diese Republik braucht, ist kein Zorro, kein zorniger alter Mann, sondern ein wenig Verstand und Einsicht. Einsicht zum Beispiel in die schlichte Wahrheit, dass alles, was geschehen kann, irgendwann auch tatsächlich geschehen wird...« Und wie zur Bestätigung schlug er mit der zusammengefalteten Zeitung auf den Terrassentisch.
»Ich dachte«, wandte Barbara ein, »du wolltest dieses Blatt noch lesen?«
»Wenn man mich lässt«, kam die Antwort. Berndorf faltete die Zeitung wieder auseinander, bis er die Seite mit dem Landesüberblick gefunden hatte. Der Artikel, den er gesucht hatte, war ein kurzer Zweispalter:
Trauer um designierten Landgerichtspräsidenten
Ulm/Tübingen. Wenige Tage vor seiner Amtseinführung als neuer Landgerichtspräsident in Tübingen ist der Ulmer Richter Michael Veesendonk bei einem Unfall tödlich verletzt worden. Veesendonk hatte gegen 14 Uhr das Gebäude des Ulmer Landgerichts verlassen und wollte - anscheinend ohne auf den Verkehr zu achten - die stark befahrene Straße vor dem Justizgebäude überqueren. Der Fahrer eines Sattelschleppers versuchte noch abzubremsen, doch die Zugmaschine erfasste den Juristen und überrollte ihn. Nach Angaben der Polizei ist Veesendonk sofort tot gewesen …
Berndorf legte das Tagblatt zur Seite. »Ich wollte doch in den nächsten Tagen nach Tübingen«, sagte er zu dem Tisch neben ihm, »zur
Weitere Kostenlose Bücher