Beim ersten Om wird alles anders
mitleidigen Blicken der gar nicht so viel Jüngeren.
Ich suche mir wie immer einen Platz hinten an der Wand, den stets korrekturbereite Yoga-Lehrer möglichst schlecht erreichen können. Kritik in Form von direkter Ansprache und Haltungskorrekturen vermeide ich an schwachen Tagen, indem ich mich verstecke.
Ich bin der Erste, der seine Matte ausrollt. Die anderen Männer trudeln ein. Keiner von ihnen legt sich neben mich. Männer, so meine Erfahrung, meiden andere Männer und liegen lieber neben Frauen. Soll mir recht sein, denn Männer in Fortgeschrittenenkursen, auch und gerade die eher übergewichtigen unter uns, haben die unschöne Neigung, sich bereits nach wenigen Minuten in tranceartiger Verzückung ihres Oberteils zu entledigen und fortan halb nackt und schwitzend zu üben. Sollen sie ruhig tun, dann aber möglichst weit weg von mir und gerne nahe an den Frauen. Unter den Halbnackten ist der Angezogene König.
Es kommt natürlich, wie es kommen muss. Neben mich - irgendwohin müssen sie ja - legt sich eine Frau, schräg vor mich ebenfalls. Beide sehr attraktiv, Typ fortgeschrittene Yoga-Frau. Den gibt es. Anders als Männer, die sich oft selbst überschätzen und schon nach vielleicht fünf unfallfrei absolvierten Anfängerstunden meinen, reif für die Fortgeschrittenenkurse zu sein, handelt es sich bei den weiblichen Teilnehmern an Fortgeschrittenenkursen meist um Frauen, die auf eine jahrelange Yoga-Praxis zurückblicken können. Jahrelanges Üben aber scheint Frauen auf eine ganz besondere Weise schön zu machen. Ihre Haltung ist aufrecht, ihr Gang selbstbewusst, ihre Ausstrahlung distanziert-gelassen.
Als würde das nicht schon für eine angenehme Übungsatmosphäre genügen, legt sich direkt vor mich auch noch Nadine, eine immer strahlende Yoga-Lehrerin, die ich aus Korfu kenne. Dort habe ich kaum mit ihr gesprochen, unvergessen ist mir aber ihr Rat, den sie mir dort beim ersten Zusammentreffen gab: „Du musst auch zulassen können.“Keine Ahnung, was genau sie damit meinte, aber ich glaube, sie hatte einfach recht. Die Vorstellung, die nächsten 90 Minuten eine absolute Expertin vor mir zu haben, der
ich im Notfall die mir vielleicht unbekannten Übungen abschauen kann, beruhigt mich.
Der Kurs beginnt. Als wir gerade das erste Om hinter uns gebracht haben, die Männer eher schweigend, die Frauen inbrünstig mitsingend, öffnet sich krachend die Tür. Ein wenig ist das mit den Störungen eingangs des Yogas wie in einer Kirche während des Eingangsgebetes. Als bereits Anwesender sollte man die Augen geschlossen halten und sich nicht ablenken lassen, egal was kommt. Als Eintretender sollte man schuldbeladen so wenig Aufsehen wie möglich verursachen. Das alles geht heute schief. Dem lauten Krachen, das man noch ignorieren konnte, folgt die völlig unbeeindruckte Frage in den Raum: „Sind wir hier richtig bei den Fortgeschrittenen?“Der Frage folgt ein weiteres Poltern, als der Fragesteller auch noch einen Yoga-Block fallen lässt. Spätestens jetzt sind alle Augen geöffnet und wollen sehen, wer sich hier so dreist in den Kurs drängt. Ein Pärchen - sie im Yoga-Look, er in Schlabberhose und weitem T-Shirt - vernehmen die Auskunft: „Hier ist der Fortgeschrittenenkurs.“Beide Eindringlinge verziehen sich in die gegenüberliegende Ecke. Der Yoga-Lehrer, ganz offensichtlich wirklich gelassen bis zu den fehlenden Haarspitzen, lächelt nur milde ob der Störung und sagt: „Jetzt setzt euch halt hin.“
Endlich geht es los mit den Übungen. Und die haben es in sich. Heute werden nur Vorbeugen praktiziert. Bisher dachte ich, dass ich die ganz gut hinbekomme. Wenn ich mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden sitze, umgreifen meine Hände problemlos die Fußsohlen und mein Kinn liegt auf den Knien. Das aber will heute niemand sehen. Stattdessen soll ich stehend mein Kinn auf die Schienbeine legen und meine Arme dabei hinter dem Rücken verschränkt
in die Höhe recken. Beim bloßen Versuch schlage ich lang hin. Das weckt sicher die Aufmerksamkeit der vor mir vorbildlich die Arme reckende und das Kinn auflegende Nadine. Sie lässt sich aber nichts anmerken.
Dann sollen wir uns mit weit gespreizten Beinen hinstellen und dabei den Kopf zwischen die Beine auf die Matte legen. Ich denke, heute wird doch noch ein guter Tag, als ich das mit Ach und Krach hinbekomme und mein Haupt im exakt gleichen Abstand zu den Knöcheln auf die Matte senke. Plötzlich aber heißt es: „Die linke Hand um den rechten
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