Beim ersten Om wird alles anders
„Vegetarier” bedeuten. Der Begriff bedeutet aber, wie ich an jenem Abend erfuhr, keineswegs Vegetarier, sondern bezeichnet jemanden, der teilnahmslos ist und vor sich hin vegetiert. Das haben mir die beiden lachend erklärt, aber der Abend war nicht mehr zu retten. Ich kam mir schrecklich dumm und provinziell vor und verabschiedete mich bald in mein eigenes Zelt. Am nächsten Tag reisten die Amerikanerinnen ab, sodass ich meine vegetarische Teilnahmslosigkeit nicht mehr vergessen machen konnte.
Yogis müssen mit - Rückschlägen leben lernen
Das hätte mein Tag werden können. Heute ging ich zum ersten Mal nach einwöchiger Pause wieder in meinen Yoga-Kurs. Ich war bis gestern im Osterurlaub in Italien. Ich habe dorthin extra meine Yoga-Matte mitgenommen mit dem festen Vorsatz, auch im Urlaub jeden Tag ein wenig zu üben. Aber mein Hotel lag mitten in einem mittelalterlichen Dorf, und meine Terrasse ging direkt auf den Kirchplatz, auf dem originalgroße Kreuze aufgestellt waren. Dort wurden - Italiener feiern Ostern wohl auf besondere Weise -, angeleitet vom Dorfpfarrer mit Megafon, von Dorfbewohnern mit Römerkostümen regelmäßig Kreuzigungen nachgestellt. In ihrer Ernsthaftigkeit erinnerten
sie mich an Monty Pythons Das Leben des Brian . In dieser Umgebung wollte ich niemanden durch Yoga-Übungen provozieren.
Deshalb gehe ich heute, zurück in München, mit großer Vorfreude in die abendliche Yogastunde. Es sollen gleichzeitig, wenn auch in unterschiedlichen Übungsräumen, Anfänger- und Fortgeschrittenenkurse stattfinden. Natürlich fühle ich mich auch nach der Pause fit für die Profis. Vor mir in der Schlange an der Theke stehen zwei Frauen. Als sie ihre Zehnerkarte präsentieren, werden sie von der Yogini an der Kassentheke taxiert und gefragt: „Anfängerkurs, nicht?“Beide nicken etwas verlegen und gehen weiter. Mitleidig schaue ich ihnen nach, den armen Anfängern. Dann bin ich an der Reihe. Ein kurzer Blick der Einlasskontrolleurin auf mich, dann höre ich ihre knappe Feststellung: „Fortgeschrittenenkurs, oder?“Ob ich will oder nicht, ob das die einem Yogi zustehenden Gedanken sind oder nicht, sofort empfinde ich eine Art Stolz darauf, dass man mir offenbar ansehen kann, dass ich mich eher zu den Fortgeschrittenen als zu den Anfängern zähle.
Beschwingt betrete ich die Herrenumkleidekabine. Ich bin der Erste, nach und nach kommen vier, fünf weitere Männer. Solariumgebräunt der eine, leicht übergewichtig der andere, tätowiert der dritte, unauffällig die anderen, das übliche Spektrum also. Keiner spricht, worüber auch? Yoga wird praktiziert, nicht besprochen.
Vor dem Yoga-Raum, in dem die Vorgängerstunde noch andauert, liegt wie ein Wachhund der Yoga-Lehrer meiner kommenden Stunde auf seiner Matte und bringt sich in Stimmung und Form. Kahlköpfig ist er, groß, yogalehrermäßig dürr, immerhin trägt er anders als seine weiblichen Pendants keinen Zehenring, dafür aber eine Zehentätowierung
und durch jede Brustwarze zieht sich ein Ring. Was die Buchstaben auf den Zehen wohl genau bedeuten? Niemand wagt es, lange genug auf seine Zehen zu starren, um die Botschaft zu entschlüsseln. So bleiben nur Vermutungen. Handelt es sich um den Namen einer indischen Göttin, gedenkt er auf diese Weise einer längst verflossenen Freundin oder dankt er auf diese unauslöschliche Art der Frau Mama?
Er reckt sich, er streckt sich, würdevoll sieht er aus und hoch konzentriert, seine Augen sind geschlossen. Undenkbar, sich ihm zu nähern, obwohl er direkt vor den bequemen Wartebänken turnt, auf denen wir sonst immer das Ende des Vorgängerkurses abwarten. Lieber drücken wir uns stehend und außer Sichtweite an die entfernte Wand, als ihn, unseren Meister für die nachfolgenden 90 Minuten, in seiner Konzentration zu stören.
Endlich hören wir, wie sich die Tür öffnet und der Kursraum die Teilnehmer der nun abgeschlossenen Stunde freigibt. Es sieht ein wenig danach aus, als hätte hier eine AOK-Veranstaltung stattgefunden. Erstaunlich viele ältere Damen und Herren verlassen den Saal, außer Atem, mit hochrotem Kopf, vielleicht froh und glücklich, ein letztes Mal die Zehen bei der Vorwärtsbeuge erreicht und eine weitere Yoga-Stunde ohne Bandscheibenvorfall hinter sich gebracht zu haben. Meine Hochstimmung jedenfalls verfliegt. Für einen kurzen Moment umweht mich die Erleuchtung, und ich sehe mich, wie ich in zehn Jahren womöglich genauso aus dem Raum schleiche, begleitet von den
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