Beim ersten Om wird alles anders
nur stumm, das merkte ich schnell, Kurt war tot. Opa griff sich dann, Kurt noch in der anderen Hand, einen Fleischerhaken. Seltsam, was der Opa so alles in der Hütte aufbewahrte, in die wir Kinder vermutlich aus guten Gründen nie durften. Ein spitzes Ende des Hakens bohrte Opa durch einen Fuß von Kurt, das andere Ende hängte er an einen Balken der Hütte. Mit wenigen Schnitten eines mitgeführten Messers durchtrennte er Kurts Fell vom Hals bis zur Hüfte und
dann am Rücken wieder nach oben. Wie einen Mantel löste er es ihm vom Körper. Ich sah einen völlig weißen, nackten Hasenkörper, der mir deutlich kleiner vorkam als der Kurt mit Fell und schrecklich verletzlich aussah, obwohl man Kurt zu diesem Zeitpunkt ja schon nicht mehr verletzen konnte.
Ich hatte genug gesehen und bin weggerannt, zurück zur Wohnung meiner Eltern. Ich habe weder an dem Tag noch jemals danach über das gesprochen, was ich im Garten meiner Großeltern gesehen habe. Darüber, dass ich ein paar Minuten lange dachte, ich hätte ein Haustier, und darüber, wie zerbrechlich Hasen ohne Fell doch aussehen. Nie sprach ich Opa darauf an, aber ich wusste jetzt, dass er nicht nur nett sein konnte.
Ich habe danach nie mehr bewusst Fleisch gegessen. Bestärkt wurde dies durch den damaligen Brauch, dass man sich bei einem Bauern aus dem Dorf ein Schwein kaufen konnte und dann ein durchreisender Metzger das Tier direkt vor der Wohnung der Käufer schlachtete und ausnahm. Dabei durfte ich nicht zuschauen, aber ich sah einmal die große Zinkwanne des Metzgers nach vollbrachter Tat an unserer Hauswand lehnten, noch voller roter Pfützen. Und ich sah die vielen Dosen, in die das Schweinefleisch noch vor Ort verpackt wurde. So ein Schwein ergab sehr viele Dosen.
Ein paar Jahre lang habe ich, weil ich es nicht besser wusste und weil diese Speisen so gar nicht nach Fleisch aussahen oder schmeckten, zwar noch Fischstäbchen und Leberkäse gegessen. Als ich dann in die Schule kam und lesen lernte, merkte ich, woraus beides bestand, und verzichtete schließlich auch darauf.
Der Begriff des Vegetariers musste damals erst noch in
den allgemeinen Sprachgebrauch eingehen. Meine Eltern machten sich deshalb große Sorgen, was mit ihrem Sohn nicht stimmt, und waren sicher, dass ich schon bald Mangelerscheinungen entwickeln würde, wenn ich ganz auf Fisch und Fleisch verzichte. Aber sie merkten rasch, dass ich es mir felsenfest in den Kopf gesetzt hatte und nicht mehr davon abzubringen war, und ließen mich schließlich gewähren. Mutter kochte nicht extra für mich, ich nahm mir nur die Beilagen, die nicht untypisch für einen schwäbischen Haushalt vor allem aus Nudeln bestanden. An eine im Nachhinein kuriose Ermahnung meiner Mutter erinnere ich mich noch heute: „Junge, wenn du kein Fleisch isst, wirst du nie eine Frau finden.“Wozu brauche ich eine Frau, dachte ich mir mit meinen sechs oder vielleicht sieben Jahren. Und was hat denn das mit meinen Essgewohnheiten zu tun? Manchmal war es nicht einfach, die Erwachsenen zu verstehen.
Mit den Frauen hat es dann trotz meiner frühen Hinwendung zum Vegetarismus später doch noch irgendwie geklappt. Erstaunlicherweise war ich aber nie mit einer langjährigen Vegetarierin zusammen. Früher gab es kaum Vegetarierinnen, und später waren sie mir meist zu verbissen, um sie näher kennenlernen zu wollen. Immerhin, eine Freundin ließ sich von mir inspirieren und aß während unserer Freundschaft nie Fleisch, und auch seitdem hält sie das konsequent durch. Aber bisher hatte ich nie ein Problem damit, dass andere Fleisch essen und ich nicht. In Lokalen darf man in meiner Gegenwart tellergroße Schnitzel verspeisen, ohne Ermahnungen zu hören.
Die einzige kleine Benachteiligung, an die ich mich aus all den Jahren erinnere, war weniger meinem Vegetarismus als dem Umstand geschuldet, dass ich nicht gut
genug englisch sprach. Als 17-Jähriger machte ich Campingurlaub in Südfrankreich und lernte Zeltnachbarinnen kennen, zwei hübsche Amerikanerinnen. Sie wollten mich einladen, gemeinsam vor ihrem Zelt Ravioli zu essen. Ich sagte zu, merkte aber an, dass ich nicht mitessen würde, denn ich sei ein „Vegetable“. Dieses Bekenntnis löst schallendes Gelächter aus, warum nur? Den Begriff kannte ich aus Logical Song , einem Lied der Rockband Supertramp. Dort heißt es im Refrain:You’re acceptable, respectable, oh presentable, a vegetable. Den Songtext kannte ich auswendig, und ich dachte, „Vegetable“müsse wohl
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